Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
dass auch die Erlöser dahinwelken, damit Gott erneut beginnen kann, eine Kreatur zu schaffen, die seiner Gaben würdiger ist.«
Die andere Frage war die Cale-Frage; mit ihr hatte sich Bosco befasst, indem er sich auf eine große geheime Prophezeiung bezüglich seiner Wiederkunft berief. Die Prophezeiung lag nun in den Gewölben der Heiligen Stadt Chartres verschlossen, nachdem sie von einer Gruppe Nonnen, zu denen er bei ihrem Besuch auf den Golanhöhen gesprochen hatte, beglaubigt worden war. Er war dann auf mysteriöse Weise aus ihrer Mitte entschwunden, obwohl eigentlich keine von ihnen gesehen hatte, wie er verschwand. So entstand der nützliche Glaube daran, dass er wiederkommen würde, um seine Pflichten bei der Herbeiführung der Endzeit zu erfüllen, aber erst, nachdem die Erlöser bei ihrem Versuch, den bösen Menschen in all seinem grauenhaften Wesen vom Angesicht der Erde zu fegen, größten Gefahren gegenübergestanden hatten.
»Und was ist, wenn sie die Wahrheit herausfinden?«
»Wir kennen die Wahrheit doch gar nicht.«
»Er hat uns verraten, der undankbare kleine Scheißer.«
»Du redest von ihm wie von einer Person. Er ist keine Person. Wenn es ihm klar wird und wenn es anderen klar wird, dann wird er zurückkehren, denn nur als Teil der kommenden Sintflut hat er eine Existenzberechtigung. Ein Rucken an der Leine zum richtigen Zeitpunkt wird genügen.«
Gil hatte sich gefragt, ob Cales Verschwinden nicht das ganze Anliegen gefährden könne. Welchen Zweck hatte denn ein abwesender Retter? Gott hatte sie kurz in seine Karten blicken lassen, sie dann aber wieder bedeckt und erwartete nun ganz eindeutig, dass die Erlöser selbst handelten. Welchen Zweck hätten sie denn sonst? Welche Zerstörung auch immer über die Welt gebracht werden würde, Gott brauchte die Erlöser nicht, um sie herbeizuführen. Indem er Cale entsandt hatte, um auf so wunderbare Weise einzugreifen, hatte er dies offengelegt. Indem er ihnen Cale wieder entzogen hatte, zeigte ihnen Gott, dass er die Erlöser nicht verlassen hatte. Er zeigte ihnen auch, dass er sie nicht vergessen würde, wenn sie erst einmal seinem Willen gefolgt waren und alle Apostaten und Ungläubigen getötet hatten, und wenn dann die Zeit kam, sich selbst zu vernichten. Ihre Vernichtung würde gewiss die Tore zur nächsten Welt öffnen. Gil war noch immer ein überzeugter Gläubiger an das Ende der Menschheit, doch je mehr er über seinen Fehler nachgrübelte, desto deutlicher dämmerte ihm, dass Cale die Zeit seiner Nützlichkeit bereits hinter sich hatte, auch wenn Bosco anderer Meinung war. Ein auf Dauer abwesender Cale würde ihrer Sache in keiner Weise schaden. Ganz im Gegenteil. Andererseits könnte und würde wahrscheinlich ein lebender Cale zu einer ernsthaften Bedrohung werden. Etwas musste geschehen.
Um seine große Rede zu ihrem Höhepunkt zu führen, warnte Bosco vor den Gefahren, die von jener neuen Art von Frauen ausgehe, die er entstehen sehe. Er spreche nicht von den aufdringlichen Schönen der Materazzi mit ihren künstlich gestreckten Hälsen, ihrem schlangengleichen Gang und ihrem sündig wallenden Haar, denn diese Frauen würde der Herr zu dem von ihm vorherbestimmten Zeitpunkt mit Fäulnis des Geschlechts beschlagen. Und er spreche auch nicht von den schamlosen Weibern in Spanish Leeds, die mit eitlem Tand klimpernd einherschreiten und denen schon bald ein Joch über den Unterleib gelegt würde. Sondern es gebe eine neue Bedrohung, die von Frauen ausgehe, welche in ihrer Geistlichkeit den Männern gleich zu sein erstrebten, die ihre Strenggläubigkeit zur Schau stellten und jeden, der nicht genügend fromm erschien, verfolgen wollten. Frauen, die sogar bereit seien, andere Frauen verbrennen zu lassen, als Warnung, dass auch sie so unnachgiebig sein konnten, wenn es um den Erhalt des Glaubens und der Rechtschaffenheit ging. Die Kongregation nickte geschlossen, begriff aber nicht, dass sich Boscos Zorn gegen seinen Vorgänger oder vielmehr seine Vorgängerin richtete und seiner Furcht entsprang, dass es noch mehr von ihrer Art geben könnte. Vielleicht sogar viele. Vielleicht waren sie überall. Dort draußen lief das Gerücht um, das sich wie eine Schnecke vor dem Winter eingrub und plötzlich im Geschwätz betrunkener Freunde zu spätnächtlicher Stunde wieder auftauchen mochte, aber natürlich überhaupt nichts mit der Wahrheit zu tun hatte: dass eine Frau den Erlöserorden zwanzig Jahre lang regiert und ihre Sache auch nicht besser
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