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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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du Staub bist und wieder zum Staube zurückkehren wirst. Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staube zurückkehren wirst. Bedenke, Mensch…« Als er beim zwanzigsten »Bedenke« angekommen war, wandte ihm Cale den Kopf zu und flüsterte zurück: »Ich hab’s kapiert. Und jetzt halt endlich die Klappe.«
    Der Kasteiungsmeister war darüber so verblüfft, dass er tatsächlich den ganzen restlichen Weg die Klappe hielt, bis sie auf dem großen Hof der Reue ankamen. Hier wurde Cales Rückkehr von der großen Phalanx der sechs Orden der Ritter des Heiligen Erlösers Barnabus erwartet. Ihre Anwesenheit ermunterte den Kasteiungsmeister so sehr, dass er es wagte, seine Bedenken erneut vorzutragen, dieses Mal allerdings deklamierte er sie zum Nutzen und Frommen der übrigen Gläubigen mit laut schallender Stimme.
    »Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staube zurückkehren wirst!« Und dann brüllte er: » HALT !«
    Cale blieb stehen. »Wende dich zu mir!« Wieder folgte Cale dem Befehl. Der Kasteiungsmeister hielt eine weiße Leinentasche in der linken Hand. Nun griff er hinein und holte eine Prise des Inhalts heraus– die vermischte Asche der vierundzwanzig Märtyrer, die auf dem großen Scheiterhaufen von Aachen verbrannt worden waren. Damit zeichnete er auf Cales Stirn ein umgekehrtes L, das Symbol für einen Galgen.
Tod, Gericht, Himmel und höllische Leiden
Sind die Vier Letzten Dinge, die uns noch bleiben.
Tod und Sünde und schwerste Kasteiung
Sind für uns Sünder die letzte Kleidung.
    Cale blickte sich im großen Hof um, der aus diesem Anlass festlich in den Farben der Hochfeste und Heiligenfeste des Erlöserordens prangte. Jeder Mönch gehörte zu einer der Sodalitäten, die sich hier in bunter Vielfalt, wenn auch in geordneten Reihen aufgestellt hatten. Da waren die Bon Secours, gekleidet in Rot und Gold; die Lazariten in Weiß und ihre Diener mit den verzerrten Gesichtern, die Kurienritter, die jaulend den Reiz und die Schönheit des einen wahren Glaubens besangen, ferner die Nekrotischen Erstickten, die Hanfseile um ihre längst wundgescheuerten Hälse trugen. Außerdem waren da die Scarlatti mit ihren roten Bowlerhüten aufmarschiert, die Quinziemen mit ihren grün-schwarzen Gurten, auf deren Köpfen ein hoher, spitzer Hut saß und die unablässig die fünfzehn Perlen der Sorgenkette durch ihre Finger gleiten ließen. Ihnen gegenüber hatten die Batteni Stellung bezogen, die den Keuschheitsgürtel mit den sieben Keuschheitsknoten um die Hüften trugen und getrocknete Straucherbsen in den Socken hatten. Schließlich waren auch die Fromondi mit ihren Knotenschnüren gekommen, die mit tiefster Inbrunst immerzu Halleluja sangen, sowie die Peccavi, welche jammervoll über das Verderben so vieler und die Rettung so weniger Menschen wehklagten.
    Bosco ging an den Rängen entlang. Er hielt einen Weihwassersprenger in der Hand und besprühte die Kriegermönche mit dem Wasser des Elends und den Ölen der Trauer. Vor jedem zehnten Erlöser blieb er stehen und bot ihm Salz an, das den bitteren Geschmack der Haut darstellte, und sie nahmen unter Tränen den Tadel entgegen. Schließlich hängte er ihnen ein fünffach gefaltetes Skapulier um den Nacken, welches das Joch der Erlösermönche– die Last des Herrn– symbolisierte, während hinter ihm ein Thuriferar eifrig das Weihrauchfass schwang und die Gläubigen in all ihrer bußfertigen Pracht gründlich einräucherte.
    Dann setzten die Gesänge ein. Die Bässe der Alimenten klangen, als kämen sie aus dem tiefsten Unterleib und erschütterten sämtliche Gedärme wie eine starke Unterwasserströmung. Dann fielen die leichteren Stimmen der Cantabile ein, welche miteinander verschmolzen, dann wieder disharmonisch kollidierten und wieder verschmolzen, als ob sie unterschiedliche Lieder sängen. Die hohen Töne der Zöglinge erklangen so rein wie Eis und stiegen mit solcher Schrillheit zum Himmel empor, dass Cale am liebsten aufgeschrien hätte. Und dann klang alles aus. Zuerst verstummten die höchsten Töne der Jungen, dann die mittleren, und schließlich rollte der immer leiser werdende Bassgesang dahin wie ein Sturm, der auf das Meer hinauszieht.
    Die Schönheit der Klänge überstieg jede Vorstellungskraft. Trotzdem hasste er sie.
    Als Cale in die Erlöserburg gebracht worden war, hatten ihn die ungewöhnlichen Anblicke und Klänge eines wichtigen Feiertags ungeheuer beeindruckt– ein einziges gewaltiges, aber für einen kleinen Jungen doch

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