Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
Vom Netzwerk:
denn als Bedrohung erschien, so musste man wohl die Gläubigen daran erinnern, dass auch die Pest eine Seuche war. Hatte man also die Folk für nicht besonders wichtig gehalten, so bedeutete dies eine gravierende Unterschätzung der Gefahr, die sie in Wirklichkeit darstellten. Ein neuer Stern am Firmament war genau das, was ihnen jetzt fehlte, und der Name dieses Sterns lautete Cale. Wie wenig plausibel es war, dass ein so junger Mensch solch große Macht besitzen solle, verstärkte bei den Gläubigen das Gefühl, Gott selbst habe hier endlich direkt eingegriffen.
    Da Cale das Veldt wirksam eingegrenzt und somit die Feinde an weiteren Angriffsplänen gehindert hatte, konnte Bosco seinen Feldherrn in die Burg zurückrufen, um ihn auf seinen Auftritt bei der Konferenz vorzubereiten. Bosco war klar, dass er ein gewagtes Spiel trieb. Cale war nach wie vor nicht ganz zuverlässig, denn seine Motive waren bestenfalls schwammig. Natürlich hatte Gil alle paar Tage Bosco von den Fehlschlägen und dem letztendlichen Sieg berichtet und auch immer, immer seine persönliche Einschätzung von Cales geistigem und seelischem Zustand angefügt. Cales Handeln war beispiellos gewesen, doch was ging wirklich in seinem Kopf vor? Boscos dringlichstes theologisches Problem hatte daher nichts mit der Mischung des Menschlichen und Göttlichen im Gehenkten Erlöser zu tun, sondern mit ihrer Mischung in Thomas Cale– Wasser und Wein oder doch eher die andere, die Unheilige Emulsion?
    Bosco hatte das Amt für die Verbreitung des Glaubens wie eine Herde Esel angetrieben, damit sie die Botschaft von Cales Siegen in jeden Winkel des Erlöser-Staatenbunds verbreiteten und seine wunderbaren, zahlreichen Eigenschaften besonders hervorhoben: Mut, Gerissenheit, tiefste Gläubigkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl für die Armen. Zugleich wurden, natürlich inoffiziell, Gerüchte über Wunder in die Welt gesetzt, Geschichten von Erlösermönchen, die bei der Begegnung mit ihm von ehrfürchtiger Frömmigkeit ergriffen worden waren und denen anschließend der Heilige Erlöser Sankt Jerome erschienen war, dem Blut aus den Stümpfen der abgetrennten Hände strömte, und vom Heiligen Erlöser Sankt Finlay, den man in einen mit Pech getränkten Teppich gewickelt und dann angezündet hatte.
    Da Cale keinerlei Ahnung von dieser Propagandakampagne hatte, kann man sich sein Erstaunen lebhaft vorstellen, als er vom Veldt zur Ordensburg zurückritt. Auf Boscos Anweisung hin benutzte er die stärker bevölkerte Straße. Selbst im abgeschiedensten Winkel standen Leute an dieser Straße, verneigten sich vor ihm und baten ihn um seinen Segen. In den Dörfern und Städten, die den grausamen und zerstörerischen Strafüberfällen der Folk ausgesetzt gewesen waren, brachen die Männer und Frauen vor Dankbarkeit in Tränen aus und stimmten Hymnen an, in denen es um Opfer und Märtyrertum ging.
    »Glaube unserer Väter, der du noch immer lebst. Der du trotzest dem Höllenkerker und Feuer und Schwert!«
    Cales Nackenhaare sträubten sich, als er diese besondere Hymne wieder zu hören bekam.
    Selbst in Ortschaften, die nicht unter den Überfällen der Folktruppen gelitten hatten, wurden Statuen von Heiligen durch die Straßen getragen, und heilige Reliquien, die seit Dutzenden von Generationen nicht mehr aus den Kirchenschätzen hervorgeholt worden waren, wurden nun ins Licht der Mittagssonne gereckt. Zu Gils Entsetzen wurden sogar die Blinden und Aussätzigen aus ihren Löchern gezerrt, um den Saum seiner Kutte oder auch nur den Schwanz oder die Mähne seines Pferdes zu berühren, damit Cale im Himmel um ihretwillen Fürsprache hielt.
    Als der Zug endlich die gewundene Straße zur Ordensburg erreichte, wusste Gil kaum noch, was er von alldem halten solle. Selbst der sonst anscheinend so unbekümmert wirkende Cale sah nun so aus, als wälzte er seltsame Gedanken, die keineswegs nur mit seinem Hass beim Anblick der Burgmauern zu tun hatten.
    Auf halbem Weg zur Burg wartete der Meister der Kasteiung auf den Heereszug. Zu seinem Amt gehörte auch eine Aufgabe, die er stets mit besonders großer Hingabe durchführte, nämlich jeden siegreich zurückkehrenden Erlöser darauf hinzuweisen, dass irdisches Streben letztlich völlig unnütz sei. Das Ritual sah vor, dass er die ganze zweite Hälfte des Aufstiegs, durch das große Burgtor hindurch und bis zum Ziel der Prozession auf den Hof der Reue unablässig einen einzigen Satz in Cales Ohr zu flüstern hatte: »Bedenke, Mensch, dass

Weitere Kostenlose Bücher