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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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recht unwirkliches Prunkfest von Lärm und Farben. Je älter er wurde, desto mehr begannen ihn die Zeremonien und die Musik zu langweilen. Wer Talent hatte, übte jeden Tag stundenlang und außer Hörweite der anderen, doch Cales Stimme war nicht für ausreichend befunden worden. Abschätzig hatte man ihm erklärt, sie klinge wie eine Katze, der die Kehle mit einer rostigen Säge durchgeschnitten würde. Nicht sehr nett, aber auch nicht unwahr. Und so hatte er viermal im Jahr den Chor singen und das Orchester spielen gehört und hatte es gemocht und gehasst zugleich. Wie konnte es sein, dass die toten Seelen der Erlöser etwas hervorbringen konnten, das ihn so bewegte?
    Es folgte die Prozession in die große Basilika, wo die Totenmesse stattfand. Nicht für die Legionen, die für den Glauben gestorben waren, sondern für all jene, die nicht mehr errettet werden konnten, bevor sie die Botschaft des Gehenkten Erlösers zu hören bekommen hatten. Aus Kummer und Sorge wurden alle Märtyrerstatuen sowie die Statuen der Schwester des Gehenkten Erlösers und die unzähligen heiligen Reliquien in der Sakristei, groß und klein, mit roter Seide verhüllt. Sie blieben vierzig Tage lang verhüllt. Auf die Sekunde genau wurden dann die Nadeln herausgezogen, die die Seide zusammengehalten hatten, und die rote Seide würde schimmernd herabfallen und das wunderbare Lächeln, die gefolterten Glieder, die Wunden und Tränen der heiligen Leidenden enthüllen.
    War Cale vom Agnus Dei im Hof erschüttert worden, so hatte er in der Basilika zwei entsetzlich öde Stunden lang Zeit, um sich zu beruhigen. Ohne die großartige Musik, die den Gläubigen in ihren Bann zog, erschienen das Rot und Schwarz und Gold der Mitren, die seltsam geschnittenen Gewänder, der Weihrauch und die mit eigenartigen Bewegungen Segen spendenden Hände auf eine vertraute Weise langweilig und sogar lächerlich. Aber sie wirkten beruhigend auf seinen Zorn, der sich gegen die erdrückend süße Lieblichkeit des Gesangs der drei großen Chöre der Ordensburg richtete. Vor allem das dumme und hässliche Gebet der Selbstverachtung wirkte auf seinen Zorn wie Ekel erregender Balsam.
Weniger als der Staub unter den Füßen,
Weniger als das Unkraut neben der Tür,
Weniger als der Rostfleck auf ungepflegter Waffe,
Weniger als das, was ich dir, Herr, nütze,
Weniger als alles bin ich.
    Und mit dieser üblen Mischung von Zorn über die Schönheit der Gesänge und über die betäubende Langeweile der Totenmesse kehrte Cale schließlich in seine Zimmerflucht zurück. Nach dem anstrengenden Ritt zur Burg wollte er nur noch eins: sich hinlegen und ausschlafen.
    Doch Bosco war noch nicht fertig mit ihm. »Du hast dich gut geschlagen. Aber nun musst du mir eins sagen: Haben die Purgatoren das Zeug, um zu siegen?«
    »Ich bin zu müde.«
    »Nur kurz. Über die Einzelheiten reden wir später.«
    »Wahrscheinlich.« Und schon bereute er, Bosco diese Befriedigung verschafft zu haben. »Möglicherweise.«
    »Die Zeit ist reif, Cale. Wir müssen siegen oder sterben.«
    »Aber nicht heute Abend.«
    »Es lag nie in meiner Absicht, Memphis einzunehmen. Und nur der Umstand, dass sich der alte Marschall und seine Familie in meiner Gewalt befinden, hält ihr Imperium davon ab, gegen uns die Waffen zu ergreifen.« Das stimmte zwar nicht mehr, aber Bosco hielt es für besser, ihn nicht mit der Mitteilung zu beunruhigen, dass sie entkommen waren. Außerdem war das Wissen darüber, was danach geschehen war, ausgesprochen bruchstückhaft. Er wusste beispielsweise nicht, dass der alte Materazzi inzwischen an Lungenentzündung verstorben war. »Wir können es nicht gleichzeitig mit den Materazzi und den Antagonisten aufnehmen.«
    »Hättet Ihr das nicht vorher bedenken müssen?«
    »Ich habe an gar nichts anderes gedacht. Deine Flucht machte es mir aber unmöglich, anders zu handeln. Und wenn du nicht in Picarbos Räume gestolpert wärst, wäre alles ganz anders.«
    »Ihr habt mich zu ihm geschickt.«
    »Stimmt. Aber allmählich wird auch dir klar, dass fast alles, was sich zum Guten oder Schlechten ereignet, seine Ursache in einem Versehen hat.«
    Cale lachte.
    »Eure Versehen?«
    »Nein.«
    »Lasst mich jetzt endlich schlafen.«
    »Nun gut. Aber um alle Zweifel zu vermeiden– du und ich, wir sind mit unzerbrechlichen Ketten aneinandergebunden. Du kannst nirgendwohin, solange du dich nicht an meiner Seite befindest. Und wie du beim Herumtollen in Memphis selbst erlebt hast, liegt es in deiner

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