Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
deshalb, dachte er, weil sie sich bereits von einem Leben des absoluten Gehorsams verabschiedet hatten– deshalb waren sie ja ursprünglich auch Glaubensabtrünnige geworden. Doch etwas in ihm weigerte sich einzusehen, dass noch etwas anderes sehr wichtig war: die Verehrung, die sie ihm entgegenbrachten. Gil hatte das klar erkannt und hielt seinerseits diese Verehrung für einen weiteren Beweis seiner göttlichen Auserwähltheit. Natürlich war Cale kein Heiliger und durfte daher nicht wie ein Heiliger oder ein Prophet verehrt werden. Aber soweit Gil Bosco verstanden hatte, war er auch keine Person in dem Sinne, in dem selbst der hartnäckigste Antagonist eine Person war. Er war im Grunde nicht richtig lebendig, sondern so etwas wie die Inkarnation einer göttlichen Emotion. Vielleicht würde er zu einem Engel werden, in dem Maße vollkommen rein, in dem Gefühle, denen absoluter Ausdruck verliehen wird, rein sind. Alles andere in ihm war im Begriff, weggebrannt zu werden. Er musste ein Mensch sein, um geboren zu werden und heranwachsen zu können. Aber das war jetzt nicht mehr notwendig, und Gil konnte beobachten, dass Cale der Junge vor seinen Augen verschwand. Gelegentlich gab es noch Rückfälle in das, was man eine Person nennen konnte: So konnte Cale mitunter lauthals über etwas Komisches lachen, das im Lager passierte, oder er schob die Zunge aus einem Mundwinkel wie ein kleiner Junge, der sich auf eine schwierige Aufgabe konzentrierte– aber solche Dinge geschahen immer seltener. Kein Wunder also, dass sich die Purgatoren von ihm angezogen fühlten und selbst auf Kosten ihres Lebens seinen Gefallen erregen wollten. IdrisPukke hätte das alles viel nüchterner ausgedrückt. Cale sammelte die Purgatoren wie Perlen oder Diamanten. Manchmal zeigte der Krieg jedoch, was für ein ungerechtes und rabiates Tier er war, indem er mitunter gerade den Purgatoren einen Pfeil in die Brust gab, auf die Cale besondere Hoffnung gesetzt hatte. An anderen Tagen mochte es sein, dass er sich besonders über die Nutzlosen ärgerte. Aber den Purgatoren wurde allmählich klar, dass ihm jeder Einzelne von ihnen wichtig war, mehr als nur wichtig sogar, auch wenn sie seine Beweggründe nicht völlig verstanden. Woche um Woche gelang es Cale besser, die gnadenlosen Niederlagen allmählich in unentschiedene Schlachtausgänge und schließlich sogar in gelegentliche Siege umzuwandeln. An der Front entlang richtete Cale dreiundzwanzig halb-stationäre Forts ein, die von fünf Hauptforts unterstützt wurden, die höchstens fünfzig Meilen entfernt lagen. Damit brachte er allmählich den Vormarsch der Folk zum Stillstand und zwang sie, im Veldt zu bleiben, wo sie von den Schiffen der Antagonisten nicht mehr mit Nachschub versorgt werden konnten. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass die Schiffe in den unzähligen Buchten der Küste vor Anker gingen. Zu Pferd konnten die Folk zwar recht leicht durch Cales Front schlüpfen, aber kein Wagen, der vier Räder hatte, konnte unbemerkt über die Straßen fahren, die von den Forts bewacht wurden. Den Folkkriegern gelang es nur noch sehr selten, einen der vorgeschobenen Posten einzunehmen, um einem Konvoi die Durchfahrt zu ermöglichen. Aber sogar das passte zu Cales Plan. Schon vor geraumer Zeit war ihm bewusst geworden, dass die meisten Leute an vergeblicher Hoffnung starben. Die Hoffnung schwächt dich; nur intelligente Verzweiflung kann dich retten. Doch nicht einmal das nützte den Folks noch etwas.
»Nun gut«, sagte Hooke, »Ihr habt also eine Pattsituation erreicht. Sie können nicht mehr siegen, und wir können auch nicht mehr siegen, von der Verteidigung der Forts abgesehen.«
»Das stimmt nicht«, antwortete Cale. »Ich habe vor, schon bald in die Offensive zu gehen.«
»Wie denn? Ihr habt doch gar keine Truppen dafür!«
»Nein, aber bald werden mir zwei große Generäle zu Diensten sein.«
»Größer als Ihr es seid?«, spottete Hooke. »Wie ist das möglich? Wer sind denn diese Prachtexemplare?«
»General Dezember und General Januar«, sagte Cale.
Während Cale damit beschäftigt war, den Folk die Lebensstränge abzuschneiden, kämpfte Bosco gegen die Versuche seiner Feinde im Pontifikat, ihm Ähnliches zuzufügen. Doch statt Gewalt benutzten sie die Waffe der Theologie, und als Mittel, ihm die Luftröhre zuzupressen, benutzten sie eine Konferenz statt einer Straßensperre.
Bei der fraglichen theologischen Kontroverse ging es um Öl und Wasser. Nur ein allmächtiger Gott
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