Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Frage auf, wie sehr sie sich verändert hatten.
Als Henri am nächsten Tag zu Cales Zimmer gebracht wurde, gingen sie zwar freundschaftlich miteinander um, zugleich aber war ihre Beziehung auch eigenartig geworden. Cale wollte Henri beweisen, dass er sich mit dem Menschen Bosco und der Religion, die sie beide hassten, arrangiert hatte, aber auf eine ganz andere Weise als früher. Er führte Henri zum Klostergebäude, sagte ihm jedoch nicht, wohin sie gingen. Dort erlebte Henri seine erste große Überraschung: Cale besaß einen Schlüssel! Und Cale ließ ihn auch sehen, dass er nicht nur einen, sondern mehrere Schlüssel besaß. Für Henri war das genauso schockierend, als hätte sich Cale niedergekniet und eine Messe zelebriert oder eine Bischofsmitra aus der Tasche gezogen und aufgesetzt. Wie Cale glaubte, würden die Schlüssel beweisen, dass er jetzt die Macht in der Ordensburg ausübte; auf Henri hatten die Schlüssel jedoch eine Besorgnis erregende Wirkung. Vielleicht hatte sich Cale bestechen lassen, ungefähr so, wie sich Perkin Warbeck mit einer Gallone süßem Sherry und einem Dutzend Schafe hatte bestechen lassen, um den Gehenkten Erlöser zu verraten. Sie kamen zu einer weiteren Tür. Cale öffnete sie, ohne einen Schlüssel zu benötigen– eine unverschlossene Tür in der Ordensburg?–, stieß sie weit auf und bedeutete Henri einzutreten.
Ringsum hörte er ein allgemeines Luftholen, als hätten viele Leute nur auf ihn gewartet, und als sei seine Ankunft nun der Höhepunkt ihrer Erwartung. An den Wänden saßen gütig lächelnde Nonnen, und mitten im Raum rutschte eine Gruppe Mädchen unruhig auf ihren Stühlen hin und her wie Kinder, die auf ihre Geburtstagstorte warten– zwölf Mädchen im Alter von vielleicht dreizehn bis etwa achtzehn. Mädchen mit rosiger, brauner, schwarzer Hautfarbe, solche mit perfekt olivfarbener Haut oder auch solche, deren Gesichter geisterhaft blass waren. Sie alle stöhnten buchstäblich vor Freude auf, als die beiden jungen Männer eintraten, eine kreischte sogar, aber die hinter ihr sitzende Nonne wies das Mädchen sofort mit ärgerlichem Zischen zurecht und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
»Guten Morgen, meine Damen«, sagte Cale lächelnd.
»Guten Morgen, Meister Cale«, schallte es im Chor zurück.
»Ich möchte euch meinen ältesten und besten Freund vorstellen. Das hier ist der große Vague Henri, von dem ich euch schon erzählt habe– die Legende von Memphis, der Held der Schlacht am Silbury Hill.« Henri lächelte recht verkrampft. Die Mädchen klatschten begeistert in die Hände und konnten sich nur schwer beruhigen, bis Cale beide Hände hob.
»Und nun«, sagte er, »hört mir alle genau zu. Wer möchte sich ganz besonders um Vague Henri kümmern?«
Ein Dutzend Hände schossen in die Höhe.
» ICH ! ICH ! ICH ! ICH ! ICH ! ICH ! ICH !«
Henri wurde zuerst bleich, dann lief sein Gesicht in schönster Vorfreude rot an.
»Geduld! Geduld, ihr Mädchen! Bitte beherrscht euch!«, rief die Schwester Oberin. »Was soll nur Meister Vague Henri von uns denken?«
»Darauf wüsste ich schon eine Antwort«, flüsterte Cale Henri ins Ohr. Der schaute ihn nur an; Cale wurde klar, dass er ihn genügend geneckt hatte.
»Schwester Oberin, bitte wählt zwei Mädchen aus, und lasst uns rufen, wenn der Raum vorbereitet ist.« Die Oberin verneigte sich höflich. Cale zog Henri am Arm zu einer weiteren Tür, öffnete sie, wiederum ohne einen Schlüssel zu benötigen, und führte ihn in eine Art Wohnzimmer. Er forderte Henri auf, sich auf ein großes Sofa zu setzen, das nicht wie eine Sitzgelegenheit, sondern eher wie ein Bett aussah.
»Möchtest du etwas zu trinken?«
»Nein.«
»Es gibt Bier oder Wein.«
»Dann eben ein Bier.«
Cale zog das Leintuch von einem der Krüge, füllte ein Glas und reichte es ihm.
»Was soll ich eigentlich mit ihnen machen?«, fragte Henri nach einer Weile.
»Was dir beliebt.«
»Sie sind Sklavinnen– und Sklaverei ist ein Unrecht.«
»Auch wenn es nicht viel bedeutet: Nach dem Gesetz wurden sie befreit. Sie sind so frei, wie du und ich einmal waren.«
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, was ich mit ihnen machen soll.«
»Warum glaubst du, dass ich von dir erwarte, dass du etwas mit ihnen machst? Falls du ein schlechtes Gewissen hast, dann nur deshalb, weil du böse Gedanken hast.«
»Ich bin nicht in der Stimmung für solche Scherze.«
»In Ordnung.«
Das klang wie eine Entschuldigung.
»Schau dich doch mal
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