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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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die Abreisenden.«
    »Das hättest du dir denken können.«
    »Hätte, habe ich aber nicht.«
    »Du hättest es dir denken können und gar nicht erst herkommen dürfen.«
    »Stimmt, aber jetzt bin ich nun mal hier.«
    »Reines Glück. Du warst so nahe dran«– Cale zeigte es ihm mit zusammengepressten Daumen und Zeigefinger– »von Brzica aufgeschlitzt und auf Ginky’s Field entsorgt zu werden. Ohne dass ich jemals davon erfahren hätte.«
    »Ende gut, alles gut.« Aber Henris Gesicht schien immer grüner zu werden. Cales Wut nahm ein wenig ab. »Ich bin jedenfalls froh, dich wiederzusehen.«
    »Wie wär’s mit einem Kuss?«
    »So froh bin ich nun auch wieder nicht.«
    Beide lachten.
    »Kriegt man hier vielleicht auch mal was zu essen?«, fragte Henri.
    »Schon bestellt.«
    Als hätte er an der Tür gelauscht, klopfte Model an und trat mit einem Tablett ein, auf dem zwei Mahlzeiten standen.
    »Nicht schon wieder dasselbe«, sagte Cale.
    »Es gibt Grenzen, Herr. In der Küche glauben sie mir nicht mehr.«
    Cale schrieb einen Brief an die Küche, in dem er den Köchen mit Boscos Bann drohte. Henri machte sich über das Essen her, verlangte jedoch, dass Cale ihm zuerst einmal seine Erlebnisse schilderte.
    Es dauerte mehr als zwei Stunden– Henri leerte bereits das zweite Tablett–, bis Cale zum Ende kam.
    »Also ist Bosco wirklich so verrückt wie ein Sack voller Katzen«, sagte Henri, nachdem er eine Weile still nachgedacht hatte.
    »Zum Glück für dich und für mich.«
    »Was hast du vor?«
    »Ich bleibe hier«, sagte Cale. »Ich muss die Sache zu Ende bringen.«
    »Was heißt das?«
    »Ich werde von allen Beobachtern beobachtet– wohin könnte ich schon gehen? Memphis existiert nicht mehr. Es gibt keine Materazzi mehr. Bleiben nur noch die Antagonisten, die mich kaltmachen würden, sobald sie mich zu sehen bekämen. Wer sonst wäre so dumm, mich nicht sofort wieder auszuliefern, selbst wenn ich entkommen könnte, was ich aber nicht kann? Ohne Bosco bin ich erledigt. Und du, Sankt Vague Henri Leichtfuß, du bist es ebenfalls. Wir sind in Boscos Gewalt, vom Kopf bis zum kleinen Zeh, und das noch mehr als jemals zuvor.«
    Henri schwieg eine Weile verstört.
    »Du hast Recht«, sagte er schließlich.
    »Sag endlich mal was, das ich nicht schon lange weiß.«
    In trübseligem Schweigen tranken sie ihr Bier.
    »Du bist dran«, sagte Cale.
    Henri begann seine Schilderung mit seiner Entscheidung, Cale nach dessen Weggang aus Memphis zu folgen.
    »Kleist wollte nicht so recht.«
    »Kann ich mir denken. Ich bin erstaunt, dass er überhaupt mitging.«
    »Darüber brauchst du nicht erstaunt zu sein. Denn schon nach einer Woche lief er davon.«
    »Genau das hätte ich auch getan, wenn Bosco nicht mich, sondern dich ergriffen hätte.«
    »Nein, hättest du nicht.«
    »Hätte ich doch.«
    »Egal. IdrisPukke und ich verloren deine Spur beim Tigerberg. Die Ausläufer sind einfach zu felsig, um Fußspuren zu finden. Gehört ohnehin nicht zu meinen Stärken. IdrisPukke wollte mich überreden, mit ihm auf die Fähre von Whitstable zu gehen. Ich vermisse ihn. Jedenfalls kam ich dann nach Voynich, und das war es so ungefähr.«
    »Du warst aber ziemlich lange in Voynich.«
    »Ist auch schön dort. Wünschte, ich wäre jetzt wieder dort.«
    Damit waren die Erklärungen zu Ende. Cale hatte seine eigene Schilderung knapp gehalten, obwohl er zwei Stunden lang geredet hatte. Zum einen hatte er nicht viel für Kriegserzählungen übrig, zum anderen warnte ihn der Ausdruck in Henris Gesicht, als er von Boscos Überzeugung erzählte, er, Cale, sei bestimmt, den Tod der Menschheit herbeizuführen. Cale war nicht sicher, wie er diesen Ausdruck deuten sollte, es war weder Glaube noch Furcht noch sonst etwas, das er hätte bestimmen können. Also hatte er die Sache mit dem Zorn Gottes heruntergespielt, obwohl er nicht feststellen konnte, was ihn an Henris Reaktion so störte. Wahrscheinlich hatte es weniger damit zu tun, dass Henri diesen Gedanken teilweise für wahr hielt; eher störte es Cale, dass Henri ihn für lächerlich halten könnte. Etwas in ihm fühlte sich von der Vorstellung angezogen, ein bedeutender Mensch zu sein, und dieses Etwas duldete keinen Spott.
    Vague Henri wiederum hatte die Wahrheit nicht einfach heruntergespielt, nein– er hatte geradewegs gelogen, obwohl er das beim Beginn seines Berichts nicht beabsichtigt hatte. In den zurückliegenden sechs Monaten hatten sie sich beide verändert. Und beiden drängte sich die

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