Die letzten ihrer Art
zurücklassend, auf den Rückweg zum Milford-Sound.
Blinde Panik
Der Alltag schafft Voraussetzungen, von denen man unbewußt ausgeht, und deshalb ist es so verwirrend, wenn man in Australien zum erstenmal den Stöpsel aus einem Waschbecken herauszieht und das Wasser andersherum als gewohnt in den Abfluß kreiseln sieht. Die Gesetze der Physik führen einem vor Augen, wie weit man von zu Hause entfernt ist.
In Neuseeland sind sogar die Wählscheiben der Telefone entgegen dem Uhrzeigersinn numeriert. Das hat mit den Gesetzen der Physik nichts zu tun – man macht es dort einfach anders. Schockierend ist daran nur, daß es einem bislang nie in den Sinn gekommen ist, daß man es überhaupt anders machen könnte. Tatsächlich hat man darüber nicht mal nachgedacht, und plötzlich ist es einfach da – anders. Man verliert den Boden unter den Füßen.
In Neuseeland zu wählen erfordert ein gehöriges Maß an Konzentration, denn alle Ziffern befinden sich dort, wo man sie am wenigsten erwartet. Wenn man es zügig versucht, wird man sich unweigerlich verwählen, weil unwillkürlich die Gewohnheit einsetzt und alles zunichte macht, bevor man sie unter Kontrolle bekommt. Die Telefoniergewohnheiten sitzen so tief, daß sie zu Voraussetzungen geworden sind, von denen man unbewußt ausgeht.
China liegt auf der Nordhalbkugel, also kreiselt das Wasser, wie bei uns, im Uhrzeigersinn aus dem Waschbecken.
Die chinesischen Wählscheiben sind numeriert wie unsere. Diese beiden Dinge sind einem vertraut. Nur sind sämtliche anderen Dinge anders, und die Voraussetzungen, von denen man unbewußt ausgeht, bescheren einem nichts weiter als Schwierigkeiten und Verwirrung.
Dank dem wenigen, was ich von den China-Erfahrungen anderer Leute wußte, ahnte ich dunkel, daß genau das der Fall sein würde. Ich saß in der Maschine auf dem langen Flug nach Peking, versuchte mir über meine Gewohnheiten klar zu werden, mir alles Vorhandene aus dem Kopf zu schlagen, und kam mir dabei ziemlich dämlich vor.
Ich fing an, mir einen ausgiebigen Rasierwasservorrat zuzulegen. Jedesmal, wenn der Duty-free-Rollwagen vorbeikam, kaufte ich eine Flasche. Derartiges hatte ich in meinem bisherigen Leben noch nie getan. Meine normale, instinktive Reaktion war immer gewesen, bloß den Kopf zu schütteln und weiter in meiner Zeitschrift zu blättern. Diesmal meinte ich, es wäre Zen-gemäßer zu sagen: »Ja, ist gut. Was haben Sie denn so?« Ich war nicht der einzige, den ich damit völlig überraschte.
»Drehst du jetzt völlig durch?« fragte mich Mark, als ich die sechste Flasche in mein Handgepäck gleiten ließ.
»Ich versuche, die festverankerten Grundvoraussetzungen, auf denen mein rational konstruiertes Verhalten fußt, in Frage zu stellen und zu untergraben.«
»Soll das ›ja‹ heißen?«
»Das soll heißen, daß ich lediglich versuche, ein bißchen lockerer zu werden«, sagte ich. »Und da ein Flugzeug einem nicht gerade viel Raum für eigenmächtige und alternative Verhaltensformen bietet, mache ich das Beste aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten.«
»Aha.«
Mark rutschte unbehaglich in seinem Sitz hin und her und starrte angestrengt in sein Buch.
»Was willst du denn mit dem ganzen Zeug machen«, fragte er mich etwas später, während wir aßen.
»Weiß nicht«, sagte ich. »Könnte schwierig werden oder?« »Sag mal, bist du wegen irgendwas nervös?«
»Ja.«
»Wegen was?«
»China.«
Inmitten einer der größten, längsten, lautesten, dreckigsten Wasserstraßen der Welt lebt die Reinkarnation einer ertrunkenen Prinzessin oder, besser, leben zweihundert Reinkarnationen ertrunkener Prinzessinnen.
Ob es sich dabei tatsächlich um zweihundert verschiedene Reinkarnationen derselben Prinzessin oder um Reinkarnationen von zweihundert verschiedenen ertrunkenen Prinzessinnen handelt, ist der Legende nicht eindeutig zu entnehmen, und leider sind auch keine Statistiken, wie häufig Prinzessinnen ertrinken, erhältlich, die ein bißchen Licht in die Angelegenheit bringen könnten.
Falls sie alle dieselbe ertrunkene Prinzessin sind, muß diese ein ausgesucht sündhaftes Leben geführt haben, um sich die ständig wiederkehrende Bestrafung, unter den derzeitigen Umständen zu leben, verdient zu haben. Ihre Reinkarnationen werden regelmäßig von Schiffsschrauben zerstückelt, in Fischernetzen voller Haken verwickelt, geblendet, vergiftet und betäubt.
Die Wasserstraße, um die es hier geht, ist der Yangtse Fluß, und die wiedergeborene Prinzessin ist der
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