Die letzten Kinder von Schewenborn
sind auch viele umgekommen. Über dreihundert Schewenborner sollen tot sein. Genaues weiß man nicht.«
Damit lief er weg. Aber er drehte sich noch einmal um und rief mir zu: »Der Christoph ist auch tot. Erinnerst du dich an ihn? Der Junge von unserm Pfarrer, mit dem wir im letzten Sommer das Baumhaus gebaut haben. Die ganze Familie, nur die Elke nicht. Die wohnt jetzt bei uns. Sie ist ja erst acht. Die Meinhards sind auch zu uns gezogen, in den Keller. Die haben ihr Haus verloren. Bei uns ist's gerammelt voll -«
Ich ging weiter und kam zum Hospital. Ich wollte nicht glauben, was ich durch den Torbogen sah: Da lagen die Verletzten in langen Reihen auf der bloßen Erde, viele halbnackt oder ganz nackt, und ihre Angehörigen kauerten bei ihnen. Kinder stolperten heulend hin und her, suchten nach Geschwistern und Eltern, Eltern suchten nach ihren verletzten Kindern. Ich ging durch das Tor und schaute und schaute. Es war gräßlich, was ich sah, und trotzdem konnte ich nicht wegschauen. Da lag eine Frau, die hatte das Gesicht verbrannt. Es war ganz verquollen. Auch ihre Haare waren abgesengt. Ihr eines Ohr war nur noch ein winziger roter Stummel. Als ich das sah, wurde mir schlecht. Neben der Frau lag ein Mädchen, das war etwa so alt wie Judith. Es hatte schon ein bißchen Busen. Aber es hatte nur noch Jeans an, sonst nichts, und auch die waren an verschiedenen Stellen angesengt. Löcher waren herausgebrannt, die Beine waren zerschrammt, die Hose klebte an rohem Fleisch. An einer Stelle konnte man bis auf den Knochen sehen. Als ich das Mädchen ansah, wurde es rot und kreuzte die Arme über der Brust.
Ich schaute weg. Ich schaute über die Reihen hin. Da lag Mensch neben Mensch: Männer, Frauen und Kinder durcheinander, Verletzte, Verstümmelte, Verbrannte. Bei den meisten hing die Haut in Fetzen herunter. Manche lagen in ihrem Erbrochenen, andere in ihrem Blut. Es roch nach Kot und Urin. Und wie in Wellen - mal lauter, mal leiser, dann wieder anschwellend zu wildem Geschrei - wehte das Gebettel, das Gestöhn, das Gejammer der Verdurstenden nach Wasser bis auf die Straße hinaus.
»Du«, ächzte das Mädchen mit den aufgeschürften Beinen, »bring mir ein bißchen Wasser, ja?«
Ich nickte und lief heim. Ich hatte ja nicht weit. Ich nahm Großmutters Milchkanne und goß das letzte Wasser aus dem Eimer hinein.
»Du mußt wieder Wasser holen«, sagte die Mutter. »Ja«, antwortete ich, »gleich.« Ich rannte mit der Kanne davon, noch bevor sie Zeit fand, mir's zu verbieten.
Das Mädchen konnte sich nicht aufrichten. Ich hielt ihr die Kanne an den Mund, Sie trank gierig. Rings um das Mädchen schrien jetzt auch andere Verletzte nach Wasser. Sie gerieten außer sich, sie rissen mir fast die Kanne aus den Händen und stießen sich gegenseitig weg. Sie kamen mir gar nicht mehr wie Menschen vor, und sie sahen auch kaum mehr menschlich aus. Ich verteilte das Wasser, bis die Kanne leer war. An ihrem Rand klebten jetzt Speichel, Blut und Schleim. Mir ekelte.
Die Frau mit dem verstümmelten Ohr hatte nicht um Wasser gebettelt. Ich wunderte mich. Ich beugte mich über sie und fragte: »Wollen Sie auch trinken?«
Aber sie antwortete nicht. Mit weit offenen Augen lag sie da und bewegte sich nicht. »Die braucht kein Wasser mehr«, sagte das Mädchen. »Sie ist tot.«
Ich fuhr hoch und schrie: »Hier ist jemand gestorben!«
Ich glaubte, nun kämen viele Leute zusammengelaufen. Aber niemand kümmerte sich um mein Geschrei. Nur ein alter Mann, der zwei Reihen dahinter lag, sagte: »Hier auch, Kind. Hier wimmelt's von Toten. Die dort muß warten, bis der nächste Schub eingesammelt wird. Wenigstens darin herrscht hier Ordnung. Man muß sich nur erst daran gewöhnen -«
Ich schaute mich genauer um. Da sah ich, daß der Mann recht hatte. Viele in den Reihen lagen regungslos da, manche mit verrenkten Gliedern. Eine Frau schüttelte schreiend ihr kleines Kind, das wie ein nasser Lappen in ihrem Arm hing. Ein junger Mann, dem ein Bein fehlte, lag mit geschlossenen Augen und bläulich-blassem Gesicht da. Sein Stumpf war nur notdürftig verbunden, der Verband ganz durchblutet. Eine Weile später hoben ihn Männer, die mit einer Bahre durch die Reihen gingen, auf und trugen ihn fort. Der schreienden Frau nahmen sie das Kind mit Gewalt weg und legten es dem toten jungen Mann quer über die Brust. Ich sah, wie der Verband von seinem Stumpf abrutschte. Das ganze in Fetzen herabhängende blutige Fleisch kam zum Vorschein.
Da kippte ich
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