Die letzten Kinder von Schewenborn
um.
Als ich wieder aufwachte, lag ich neben dem Mädchen in der Reihe. Die Sonne schien mir ins Gesicht. Eine Frau ging mit einem Wassereimer durch die Reihen und gab jedem aus einem Becher zu trinken. Wer den Becher nicht selber halten konnte, dem hielt sie ihn an die Lippen. Vielen lief das Wasser aus den Mundwinkeln.
Aber noch bevor sie zu mir kam, sprang ich auf und lief davon, obwohl ich auch durstig war. Als ich durch das Tor rannte, erkannte ich vor mir die Männer, die eben die Toten eingesammelt hatten. Sie schoben einen zweirädrigen Karren. Der war mit einer Plane bedeckt. Ich folgte ihnen. Einer drehte sich um und sagte: »Bleib da weg, Junge, das ist nichts für Kinder.«
Da blieb ich eine Weile stehen und ließ ihnen einen kleinen Vorsprung. Dann ging ich wieder hinterher. Sie fuhren auf die Bleiche, auf die große Wiese neben der Schewe. Dort war eine mächtige Grube ausgeworfen. Die Männer packten die Toten an den Armen und Beinen und warfen sie mit Schwung hinein. Ich mußte an die Mutter des toten Kindes denken. Als die Männer mit dem Karren wieder fort waren, ging ich zur Grube und schaute hinein. Aber ich konnte nicht viel sehen. Die Männer hatten Kalk über die Toten gestreut.
Als ich heimkam, merkte ich, daß ich die Kanne nicht mehr hatte. Ich ging sie suchen, konnte sie aber nicht mehr finden, weder im Hospital noch auf der Bleiche. Ich glaube, sie war unter den Kalk geraten.
4
Von diesem Tag an war ich mehr im Hospital als zu Hause. Darüber ärgerte sich der Vater, denn er brauchte mich für die Arbeit. Aber ich sagte: »Judith ist ja auch noch da. Warum soll sie nicht mal Wasser holen? Im Hospital gibt es so viel zu tun.«
Zuerst wollte ich mich nur um das Mädchen kümmern, aber bald riefen auch andere Patienten nach mir. Und jeden Tag kamen neue hinzu. Ihre Angehörigen schleppten sie mit letzter Kraft bis hierher und brachen neben ihnen zusammen.
Ich half, so gut ich konnte. Aber um das Mädchen kümmerte ich mich am meisten. Ich holte von Großmutters Vorräten heimlich etwas für sie zu essen, denn die Suppe, dreimal am Tag verteilt, wurde von Tag zu Tag dünner. Ich brachte ihr auch ein T-Shirt von Judith. Darüber freute sie sich sehr. Nach und nach erfuhr ich ihre ganze Geschichte:
Sie hieß Annette und war die einzige Überlebende ihrer Familie. Die Rothmanns hatten etwa auf halber Strecke zwischen Schewenborn und Fulda gewohnt. Ein Steilhang hinter dem Haus hatte die Druckwelle gemildert. Annettes Vater und ihre drei Brüder waren in Fulda umgekommen, ihre Mutter und ihre Großmutter lagen unter den Trümmern ihres Hauses. Der Großvater, der im Garten gearbeitet hatte, als die Bombe gefallen war, hatte Annette, selber schwer verletzt, aus den Trümmern befreit. Von der Großmutter hatte er nur die Brille gefunden. Die war noch ganz gewesen. In der Nachbarschaft hatte sich fast nichts mehr gerührt, und nach Fulda hin war alles tot und grau gewesen.
Mit ihren zerschundenen Beinen und der gequetschten Brust hatte Annette kaum gehen können. Der Großvater hatte sie immer wieder tragen müssen. Er hatte mit ihr in den Vogelsberg flüchten wollen, den er unverseucht glaubte. Aber sie fanden keine Brücke. So hatten sie sich am Fuldaufer entlanggeschleppt, wo es wenigstens Wasser gab, um den Durst zu stillen, der sie halb wahnsinnig machte. Als Annette über Hunger geklagt hatte, war der Großvater darüber froh gewesen. Er hatte ihren Hunger als Zeichen dafür angesehen, daß sie leben wollte.
Im Obstgarten eines zerstörten Dorfes hatten sie ein paar Frühäpfel gepflückt. Die waren noch nicht reif gewesen, aber braun und verrunzelt wie Bratäpfel, und die Bäume hatten ihre Blätter bei jedem Lufthauch verloren, wie im Herbst. Kurz vor Schewenborn hatte ihnen eine Bäuerin einen trockenen Gugelhupf geschenkt und dazu gesagt: »Der stammt noch von vorher. Ich bringe keinen Bissen davon herunter, denn meine Tochter hat ihn gebacken. Die ist in Fulda geblieben.«
Dann waren sie in Schewenborn angekommen und hatten sich bis zum Hospital durchgefragt, hatten sich durch Gruppen von Verletzten gedrängt, die auf den Straßen nach Hilfe geschrien hatten. Sie hatten keinen Platz mehr in den Gebäuden gefunden und hatten sich auf den Hof legen müssen. Nachts hatten sie gefroren. Morgens waren sie feucht vom Tau gewesen. Der Großvater hatte auf dem Bauch liegen müssen. Er hatte gefiebert und gelben Schleim gebrochen und immerzu nach Wasser verlangt. Sein ganzer Körper war
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