Die letzten Kinder von Schewenborn
von dunklen Flecken übersät gewesen, und dann war ihm das Haar ausgegangen. Bevor er gestorben war, hatte er noch zu Annette gesagt: »Laß dich nicht unterkriegen. Vielleicht schaffst du's.« Dann hatten ihn die Männer auf den Karren geladen.
Ich sprach mit meinen Eltern. Ich bat sie, Annette zu uns zu nehmen. Aber meine Mutter wollte nicht. Sie wollte nichts von diesem Elend sehen.
Sie hätte Annette nicht lange im Haus gehabt. Annette wurde immer schwächer. Sie aß nichts mehr, auch wenn ich sie füttern wollte. Ihr war immer übel. Sie hatte Durchfall, und schließlich brach sie auch Blut. Das Haar ging ihr in Büscheln aus, und die Wunden an den Beinen eiterten. Die letzten beiden Tage ihres Lebens verbrachte sie auf einer Matratze im Keller des Hospitals. Dann wurde auch sie fortgekarrt. Ich bin hinterhergelaufen. Ich hab sie nicht alleinlassen wollen.
»Dummer Bub«, sagte einer von den Männern, »sie ist doch tot« Trotzdem. Ich konnte mich nicht so schnell daran gewöhnen, daß sie mich nicht mehr brauchte.
Immer hartnäckiger hielten sich die Gerüchte, daß nicht nur Fulda und Kassel, sondern alle großen Städte der Bundesrepublik zerstört worden waren und daß es viele Millionen von Toten gegeben habe. Aber meine Mutter sagte nur dazu: »Das glaube ich erst, wenn ich's mit eigenen Augen gesehen habe.« Der Vater schwieg dazu. Ich merkte ihm an, daß er die Gerüchte am liebsten auch nicht geglaubt hätte. Aber insgeheim war er schon überzeugt, daß sie stimmten.
Auch nach Annettes Tod blieb ich im Hospital und half. Der Zustrom der Verletzten und Kranken nahm etwas ab. Die Ärzte, die fast rund um die Uhr gearbeitet hatten, atmeten auf. Aber die Bleiche war ganz zerwühlt. Manche sprachen von zwölf Gruben, manche von fünfzehn. In ihnen lagen Schewenborner und Fremde Seite an Seite.
»Ich will auf dem Friedhof begraben werden!« kreischte eine alte Dame im Flur des obersten Stockwerks. »Das ist das mindeste, was man verlangen kann, wenn man schon sterben muß!«
Und sie versuchte, die Männer zu bestechen, die die Toten einsammelten. Sie hielt ihnen einen Tausender hin, ich sah es genau. Offenbar hatte sie eine Menge Geld bei sich, in ihrem Krokodilleder-Täschchen. Aber das half ihr nicht gegen die dunklen Flecken auf ihrer Haut und die Haarbüschel in ihrem Kamm, untrügliche Zeichen der Strahlenkrankheit.
Die Totengräber zuckten nur mit den Schultern, und keiner von ihnen griff nach dem Schein.
»Die Bleiche ist näher beim Hospital«, sagte einer. »Der Friedhof dagegen liegt auf einem Hügel hinter der Stadt, und der Weg dorthin ist an mehreren Stellen verschüttet. Verstehen Sie doch - es geht nicht. Wir sind froh, wenn wir überhaupt einigermaßen nachkommen. Oder wollen Sie lieber nach Ihrem Tod noch ein paar Tage hier oder sonstwo unbegraben herumliegen - in dieser Sommerhitze?«
»Aber so dicht an dicht, neben irgendwem -«, zeterte die Dame. »Das bin ich nicht gewohnt -«
Die Totengräber wurden unwillig, sie hatten es eilig.
»Man brauchte doch nur den Schutt von der Straße zu räumen, die zum Friedhof führt!« rief sie. Obwohl sie mir leid tat, fand ich das doch sehr egoistisch. Als ob es nichts Wichtigeres zu tun gab, als Schuttberge von den Straßen zu räumen!
Viel wichtiger war es zum Beispiel, Vorräte zu sichern. Es dämmerte nun jedem, daß uns noch viel schlimmere Zeiten bevorstanden. Es gab nichts mehr zu kaufen, vor allem keine Lebensmittel und keine Medikamente. Die Obdachlosen plünderten die beiden Supermärkte. Anfangs versuchten die Schewenborner, sie daran zu hindern, dann plünderten sie mit. Regelrechte Schlachten um Margarinekisten, um Speckseiten, um Speiseölkanister und Schokoladetafeln wurden geschlagen.
Ein Obdachloser erschlug einen anderen im Kampf um eine Käsekugel.
Nach den Supermärkten kamen die kleineren Lebensmittelgeschäfte und die Bäckereien und Metzgereien dran, schließlich auch die Textil- und Schuhgeschäfte, die Eisenwarenhandlungen und Spielzeugläden. Nur für Elektrogeräte interessierte sich niemand.
Ich war dabei, als die Krankenschwestern und Pfleger die Apotheke ausräumten, die dem Hospital gegenüberlag. Der Apotheker half uns, aber Plünderer rissen uns die Körbe mit den Fläschchen und Dosen und Schächtelchen aus den Händen. Es gab eine richtige Schlägerei, bei der uns viele Medikamente, die wir schon sicher glaubten, doch noch verlorengingen. Aber wir konnten trotzdem eine ganze Menge
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