Die letzten Kinder von Schewenborn
Bluterbrechen, aber immer an der gleichen Ursache: den radioaktiven Strahlen.
Es wurde Oktober, es wurde November, es begann zu schneien. Jens konnte sich nicht mehr an den letzten Schnee erinnern. Er war außer sich und versuchte, die Flocken zu fangen. Ich machte mit ihm eine kleine Schneeballschlacht. Ganz verdutzt schaute Frau Kramer aus dem Nachbarhaus. So ein Gelächter hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Oder vielleicht doch? Denn sie hatte in der Typhuszeit, als sich niemand mehr um die Kinder im Schloß gekümmert hatte, zwei von ihnen bei sich aufgenommen. Das eine war bald an der Ruhr gestorben, das andere lebte noch, ein sechsjähriges Mädchen mit Brandnarben an den Händen. Seitdem sie das Kind bei sich hatte, machten ihr die Leute, bei denen sie untergekommen war, große Schwierigkeiten. Trotzdem behielt sie es.
Meiner Mutter schossen Tränen in die Augen, als sie uns zuschaute. Sicher dachte sie an Kerstin und Judith. Kerstin hatte ein Jahr zuvor auch mit solcher Freude den ersten Schnee begrüßt.
Die Streichhölzer gingen aus. Großvaters Feuerzeug war schon längst leer, sogar der Feuerstein war abgenutzt. Von nun an mußten wir auch über Nacht das Feuer in Gang halten - wenigstens so, daß wir am nächsten Morgen noch einen Holzspan an der Glut entzünden konnten. Fast jeden Tag klopfte jemand an die Tür: »Haben Sie ein bißchen Glut für mich, Frau Bennewitz?«
Aber manchmal waren wir so müde, daß wir das Nachlegen verschliefen. Dann war am nächsten Morgen der Herd kalt, und ich mußte in der Nachbarschaft nach Glut fragen gehen. Feuer war jetzt das Allerwichtigste außer Essen.
Essen? Hätte man uns früher solche Notgerichte vorgesetzt, hätten wir uns geweigert, davon zu essen. Wie oft hatte unser Vater nach Urlaubsreisen Bekannten erzählt: »Die Lage des Hotels war optimal - direkt am Strand. Aber das Essen! Der reinste Fraß.« Dabei waren die Schnitzel nur ein bißchen zäh und die Suppen zu übertrieben mit Knoblauch gewürzt gewesen. Auf dieses Hotelessen hätten wir uns jetzt mit Heißhunger gestürzt und hätten es köstlich gefunden, auch wenn uns Tintenfisch mit Marmelade serviert worden wäre!
Jetzt gab es fast jeden Tag Steckrüben und Kartoffeln, mittags und abends. Und morgens aßen wir einen Brei aus Getreidekörnern, die die Mutter durch Großmutters Kaffeemühle gedreht hatte - ohne Milch und Zucker, nur in Wasser aufgekocht. Und sogar mit dem Salz mußten wir sparen. Schon wurde es knapp in der Stadt und stand bei Tauschgeschäften hoch im Wert. Längst salzten wir mit Viehsalz. Das Essen schmeckte schal. Trotzdem aßen wir alles, was eßbar war.
Nie werde ich den ersten Weihnachtsabend nach dem Bombentag vergessen: Zur Feier des Tages hatte die Mutter die Tür zur guten Stube aufgemacht. Die war fast dunkel, denn wir hatten nun, im Winter, die Fensterlöcher mit Brettern zugenagelt und die Ritzen mit Heu und Stroh verstopft. Es dauerte lange, bis der große Raum so warm wurde, daß man darin sitzen konnte, ohne zu frieren. Die Mutter gab eine Kerze aus Großmutters Vorrat heraus, eine kleine rote Kerze, die vom letzten Fest übriggeblieben war. Die stellte sie auf den Tisch, in einen Kranz aus Fichtenzweigen, und zündete sie an. Wir saßen im Kreis und starrten in das ungewohnte Licht. An gewöhnlichen Abenden konnten wir uns ja nur den Feuerschein aus dem Herd erlauben und gingen schon um sieben oder acht Uhr zu Bett. Was für ein wunderbares Licht, diese Kerzenflamme! Wir schauten ihrem Geflacker zu und lauschten andächtig dem Geklimper der Spieluhren, die die Mutter aus Großmutters Kommode geholt hatte. Sie zog eine nach der anderen auf, zuletzt die neue, die wir der Großmutter am Bombentag hatten mitbringen wollen: O sole mio . Jens staunte, und dann spielte er mit seinen Geschenken: dem saubergewaschenen Teddybär aus dem Hospital und dem Hampelmann, den ihm die Mutter aus alten Wollresten gehäkelt hatte. Vater hatte ihm einen Kreisel geschnitzt. Jens war überglücklich.
Wir anderen aber mußten an Kerstin und Judith und Silke und die Großeltern denken. Als der Vater sah, daß die Mutter weinte, griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. Da legte ich meinen Kopf auf ihren Schoß, so wie früher, als ich noch klein gewesen war, und weinte auch. Aber ich weinte unter der Tischplatte, damit mich Jens nicht sah. Für ihn sollte es ein schönes Fest sein.
Als die Kerze heruntergebrannt war, gab es echte Bratkartoffeln mit dem letzten Rest Speck,
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