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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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über der Stirn, die sie mit ihrem langen, glatten, schwarzen Haar zu verstecken versuchte. Die andere Nicole hatte Sommersprossen und eine ganz weiße Haut. Auf ihrem Kopf sproß ein junger, weißblonder Flaum. Ihr fehlte ein Daumen.
    Den beiden Nicoles begegnete ich überall in der Stadt. Sie waren unermüdlich unterwegs, um für »ihre« Kinder Essen zusammenzubetteln. Wer ihnen nichts gab, dem spuckten sie vor die Füße und zischten: »Die Strahlenkrankheit soll dich treffen, du mieses Schwein!« oder ähnliches. Viele steckten ihnen aus purer Angst eine gekochte Kartoffel oder eine Möhre zu.
    Was die Nicoles tagsüber für ihre Kinder nicht bekamen, stahlen sie nachts. Einmal biß die schwarze Nicole Frau Lipinski in die Hand. Die hatte sie spät abends in ihrem Keller dabei überrascht, wie sie gerade eine sorgsam gehütete Hartwurst stehlen wollte. Die Lipinskis waren bekannt für ihren Egoismus. Sie gaben keine Glut ab, keinem Bettler was zu essen, halfen nie beim Schuttkarren. Ihr Keller sollte noch voller Eßvorräte gestapelt sein. Nicole entkam mit der Wurst. Als kurz darauf Herr Lipinski wütend in den Schloßkeller gestürzt kam, war die Wurst schon weg - von den Kindern in aller Hast aufgegessen. Die Kleinsten auf den Schößen der Nicoles kauten noch daran. Was sollte er tun, als umkehren? Er konnte ihnen ja die Wurst nicht wieder aus den Mägen holen.
    »Wenn ich euch in der Stadt erwische«, rief er den Mädchen zu, »bringe ich euch um, egal, ob ihr Kinder oder Erwachsene seid!«
    »Tu's doch, du Arschloch«, sagte die Helle. »Dann bist du aber dran schuld, wenn dieser Haufen Kinder verhungert, um den ihr fiesen Geizkragen euch nicht kümmert!«
    »Schweinehunde!« rief ihm der Junge ohne Beine nach. »Ihr seid an der Bombe schuld! Euch war's ja egal, was mit euren Kindern geschieht. Hauptsache, ihr hattet ein bequemes Leben. Jetzt habt ihr's, und ihr habt's verdient. Aber uns habt ihr mit ins Verderben gerissen! Verrecken sollt ihr!«
    Empört erzählte das Frau Lipinski jedem, dem sie begegnete. Sie wurden wirklich zur Stadtplage, die Nicoles mit ihrer Horde. Aber seitdem ich ihnen einmal zugesehen hatte, wie sie  ihre Beute unter die Kleinen verteilt und die Kleinsten auf den Schoß genommen und mit ihnen geschmust hatten, bewunderte ich sie heimlich und hielt zu ihnen. Und ich war nicht der einzige in Schewenborn, der sie verteidigte.
    Eines Morgens fand man die Schwarze mit eingeschlagener Stirn neben dem Haus der Lipinskis. Herr Lipinski brüstete sich sogar noch damit, das Kind erschlagen zu haben.
    »Die klaut keine Wurst mehr«, sagte er. »Jetzt noch die andere Schakalin, dann hat die Stadt Ruhe.«
    Aber in der nächsten Nacht rottete sich die halbe Stadt vor Lipinskis Haus zusammen, drang in den Keller ein und räumte ihn aus. Lipinski erlitt einen Schlaganfall und blieb gelähmt. Das tat niemandem leid. Man sprach von Gerechtigkeit.
    Ich war auch dabei, als der Keller ausgeräumt wurde. Ich holte zwei Speckseiten und zwei Würste heraus. Eine Wurst wurde mir wieder entrissen. Was mir blieb, trug ich nicht heim, sondern ins Schloß. Dort kauerten die Kinder um die tote Nicole, die sie heimgetragen hatten. Sie war steif gefroren. Ihre Arme waren wie zum Schutz erhoben, ihre Augen standen weit offen. Ich legte Wurst und Speckseiten auf die Kellertreppe und lief wieder weg.
    Ich weiß nicht, wo sie sie begruben und ob sie sie überhaupt begruben. Wie hätten sie denn mitten im Winter ohne Hacken und Spaten eine Grube ausheben können?
    Die helle Nicole starb gegen Ende Dezember, wahrscheinlich an Erschöpfung. Kurz danach fand ich die drei Tauben erfroren in einer Ecke des Schloßkellers unter Andreas' großen Buchstaben. Die übrigen Kinder streunten noch eine Zeitlang durch die Stadt. Ein paar von ihnen hatten Glück, sie fanden jemanden, der sie bei sich wohnen ließ. Die anderen verloren sich nach und nach, einige erfroren, die meisten verhungerten.
    Es war nur ein paar Tage nach dem Tod der hellen Nicole, als ich Andreas' Kinderwagen im Schnee unter einem Baum im Schloßpark stehen sah. Es schneite in dicken Flocken. Es schneite auch in den Wagen. Ich glaubte, Andreas säße erfroren darin. Aber er lebte noch. Er hatte mit seinen rotgeschwollenen Händen seine Decke in Streifen gerissen und zu einem dicken Strick geflochten. Als er mich kommen sah, versteckte er ihn hastig und starrte mich gehässig an. Er hatte ein kluges Gesicht. Mir fielen seine langen Wimpern auf.
    »Du kannst

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