Die letzten Kinder von Schewenborn
der von dem Mann an der Zonengrenze stammte, danach für jeden eine Schale Kompott, das die Großmutter noch selber eingemacht hatte. Erdbeerkompott. Auf dem Einmachglas stand noch das Datum: elf Tage vor dem Bombentag.
Es wurde kein besonders kalter Winter. Aber für die, die nicht genug Brennholz gesammelt oder kein Dach über dem Kopf hatten, für alle die Obdachlosen, die sich über die Landstraßen schleppten, wurde er hart genug, vor allem für die Kinder unter ihnen - verwaiste, verlorengegangene Kinder, armselig, verwahrlost. Viele von ihnen besaßen keine Schuhe mehr. Manche hatten sich Lumpen um die Beine gewickelt, andere liefen sogar barfuß, mit Füßen voller Frostbeulen.
Klopfte eins an unsere Tür, gab ihm die Mutter einen Teller voll Steckrübensuppe. Klopfte es abends, ließ sie es in der Küche vor dem Herd schlafen. Aber am nächsten Morgen, wenn sie es wieder vor die Tür schob, gab es oft herzzerreißende Szenen. Es wollte nicht wieder fort, wollte bei Wärme und Suppe bleiben, wo es eine Nacht lang wieder ein Zuhause gehabt hatte.
Aber die Mutter blieb unerbittlich.
»Ich darf mir jetzt nicht mehr aufladen, als ich schaffen kann«, sagte sie. »Lasse ich so ein armes Würmchen erst ein paar Tage bei uns sein, hänge ich auch schon an ihm. Dann bringe ich's nicht mehr fertig, es wieder vor die Tür zu setzen.«
Der Vater gab ihr recht.
»Wenn man überleben will«, sagte er einmal, »muß man in solchen Zeiten sein Herz ohrfeigen. Denn was taugt die christliche Nächstenliebe, wenn sie einen umbringt?«
Im Keller des Schlosses hatten sich einige von den Bettelkindern eingenistet. Die ältesten waren vielleicht vierzehn, die jüngsten nicht mehr als zwei oder drei Jahre alt. Zwei große Mädchen waren die Anführerinnen. Manchmal schlich ich mich am Schloß vorbei und spähte zu ihnen hinüber. Sie witterten immer gleich Feindseligkeiten, wenn man stehenblieb und schaute.
»Hau ab, du blöder Affe«, riefen sie mir zu, »oder wir verdreschen dich!«
Ich bin sicher, daß sie's getan hätten, wenn ich nicht gegangen wäre. Sie hielten fest zusammen. Dabei waren mehrere Krüppel unter ihnen. Einem Achtjährigen, den sie Kille nannten, fehlten das linke Auge und der linke Arm. Ein rothaariger Robert zog sein rechtes Bein nach. Auf dem Rücken schleppte er einen Ranzen herum, den er fast nie ablegte. Grischa, fünf oder sechs, hatte das Gesicht voller Narben. Ihn und ein paar andere Kinder kannte ich noch aus der Zeit, als sich Mutter und Judith um die Kinder im Schloß gekümmert hatten. Einen, der keine Beine mehr besaß und den sie Andreas nannten, schoben sie in einem alten Kinderwagen herum. Es war schwer, sein Alter zu schätzen, aber nach seinem Gesicht und seiner Stimme zu urteilen, war er mindestens vierzehn. Einmal beobachtete ich ihn, wie er sich von ein paar Kleineren rund um das Schloß schieben ließ und mit großen Blockbuchstaben an alle vier Wände schrieb:
VERFLUCHTE ELTERN!
Er schrieb mit Holzkohle auf die hellen Mauern. Schon von weitem konnte man es lesen.
Da gab es auch ein blindes Mädchen, nicht älter als acht oder neun. Es wurde immer von einem anderen, etwas jüngeren Mädchen geführt, das kein Gesicht mehr besaß. Die Nase war nur noch ein Stummel. Durch ein großes Loch in der Wange konnte man die Zähne sehen. Die andere Wange wie auch die Stirn waren zerfurcht von tiefen Narben. Einer, der Flauschi gerufen wurde, schien nicht ganz normal zu sein. Ab und zu begann er, ohne ersichtlichen Grund entsetzlich zu schreien, und klammerte sich an das nächstbeste Kind. Dann kam meistens die Gesichtslose gelaufen, streichelte ihn, drückte ihn und blieb bei ihm, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Ich erinnere mich auch noch an drei kleine Kinder, von denen ich nie erfuhr, ob es Jungen oder Mädchen gewesen sind. Sie waren alle drei blondlockig und zart. Auf den ersten Blick schien ihnen nichts zu fehlen. Aber mit der Zeit bekam ich heraus, daß sie taub waren. Das älteste taumelte beim Gehen. Ich erzählte meiner Mutter von ihnen.
»Wahrscheinlich ist ihnen das Trommelfell geplatzt«, meinte sie. »Und dem ältesten wird das Ohrinnere verletzt worden sein. Arme Dinger.«
Am liebsten aber sah ich den zwei ältesten Mädchen zu. Sie hießen beide Nicole. Sie hatten schon Busen, aber noch Kindergesichter. Die eine hatte eine kaffeefarbene Haut und schwarze Augen. Vielleicht war sie einmal aus einem fremden Land adoptiert worden. Sie hatte eine knallrote Narbe quer
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