Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
Den Industriebetrieben geht es nicht anders. In den Supermärkten stehen jetzt die Westwaren. Fast jeden Tag fordert in der Volkskammer ein anderer die Einigung sofort. 10 De Maizière will Kohl vorschlagen, den Vereinigungsprozess deutlich zu beschleunigen.
»Ich kam von einer Wanderung zurück«, schreibt Kohl in seinen Erinnerungen 11 , »als mir Walter Neuer die Nachricht überbrachte, dass Lothar de Maizière mich unverzüglich sprechen wolle. Ich erwiderte, dass dies doch kein Problem sei. Wir könnten doch telefonieren. Dem war jedoch nicht so. Der DDR-Ministerpräsident wollte mich persönlich sprechen und befand sich bereits mit Günther Krause auf dem Weg zu mir. Nachdem sie am Nachmittag mit ihrer riesigen Maschine auf dem kleinen Salzburger Flughafen gelandet waren, kamen sie eine Stunde später in St. Gilgen an. De Maizière fiel gleich mit der Tür ins Haus. Er schilderte mir eindringlich, dass seine Regierung die Situation in der DDR nicht mehr bis zum 2. Dezember beherrschen könne. Trotz der Bonner Milliarden rechne er mit dem baldigen wirtschaftlichen Kollaps seines Landes. Alles werde im Chaos versinken. Als Ausweg schlug er nun vor, in der darauffolgenden Woche vor die Volkskammer zu treten und den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bereits für den 14. Oktober zu verkünden. Für diesen Tag seien auch die Landtagswahlen in den
Näheres dazu im 7. Kapitel.
Helmut Kohl: Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996, S. 450 f.
3.8.1990, Berlin, Lothar de Maizière verkündet auf einer Pressekonferenz das Vorziehen der gesamtdeutschen Wahlen vom 2. Dezember auf den 14. Oktober 1990 (rechts die stellvertretende Pressesprecherin Angela Merkel)
bis dahin gegründeten fünf neuen Ländern vorgesehen. Es biete sich daher an, parallel dazu auch die ersten gesamtdeutschen Wahlen durchzuführen.« Also Vorziehen der Bundestagswahl auf den 14. Oktober.
Kohl meldet Verfassungsbedenken an, stimmt dann aber, nach de Maizières Darstellung, zu: »Das fand er toll, könnte man so machen. Und wir sind auseinandergegangen, dass das so sein sollte. Günther Krause hat dann nachher mit Kohl noch im Wohnzimmer gesessen, dort stand ein Klavier, Günther hat Klavier gespielt, Deutschlandlied und was weiß ich nicht alles. Und ich bin rausgegangen und habe mich in der Küche mit Hannelore Kohl unterhalten, über familiäre Dinge oder sonst irgendwas. Eine reizende Frau, ganz warmherzig und lieb. Das war es dann.«
Am nächsten Tag beruft de Maizière in Berlin eine Pressekonferenz ein und verkündet die vorgezogenen Bundestagswahlen. »Ich habe bei Kohl am Wolfgangsee angerufen und habe gesagt: ›Herr Bundeskanzler, der Countdown läuft, ich habe die Pressekonferenz einberufen, und ich werde also um 11.00 Uhr diese Nachricht verkünden.‹ Gesagt – getan. In späteren Büchern hat Kohl behauptet, ich hätte versucht, ihn über den Tisch zu ziehen. Das ist ein Bild, das schon rein optisch nicht vorstellbar ist.«
Das Bundeskanzleramt dementiert, de Maizière fühlt sich »unglaublich gelinkt«: »Kohl wollte wohl nicht als derjenige dastehen, der erst Ja und später Nein gesagt hat oder in Verfassungsfragen nicht sicher ist und Ähnliches. Ich habe es als unfair empfunden, es hat meine Autorität und mein Ansehen ja doch ziemlich angekratzt, und das konnten wir uns eigentlich damals nicht leisten. In dieses Treffen am Wolfgangsee ist ja viel ›reingeheimnist‹ worden, mir hätte man meine Stasi-Akte vorgehalten oder sonstige Dinge. Ist alles barer Unsinn! Ich glaube, dass wir bis zum 3. Oktober redlich miteinander umgegangen sind, wenn ich mal absehe von dieser Situation am Wolfgangsee.«
Die Bundestagswahl wirft ihre Schatten voraus. Die CDU hat die Mehrheit im Bundesrat, verliert aber nach Meinungsumfragen immer mehr Stimmen und wird nervös. Die SPD wittert Morgenluft. Die Verhandlungen zum Einigungsvertrag stehen kurz vor dem Ziel. Die Bundesländer sind an den Verhandlungen beteiligt. Als Vertreter der SPD-regierten Länder und stellvertretender Vorsitzender der Länderdelegation sitzt Wolfgang Clement mit am Verhandlungstisch. Nach de Maizières verhängnisvoller Pressekonferenz steht Clement auf und verlässt die Verhandlungsrunde. Die SPD for dert daraufhin ein Überleitungsgesetz, was das Ende der Verhand lungen zum Einigungsvertrag bedeutet hätte. Sie kann sich letztlich jedoch nicht durchsetzen.
Reinhard Höppner vermutet, dass de Maizière am Wolfgangsee in die Zange
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