Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
wir trotzdem mit ein oder zwei Stimmen verloren, weil irgendein Abgeordneter der CDU aus Sachsen mit drei seiner CDU-Kollegen nach Hause gefahren war und uns die vier Stimmen fehlten.«
Laut Protokoll endet diese Volkskammersitzung um 2.20 Uhr. PDS und Bündnis 90 stimmen geschlossen gegen das Wahlgesetz, Letztere, weil sie grundsätzlich gegen eine Vereinigung sind und immer noch von einer erneuerten DDR träumen. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wird nicht erreicht. Reichenbach: »Früh um sieben dann am nächsten Tag klingelte das Telefon. Kanzler Kohl! Er hat gesagt: ›Was habt ihr denn gestern für einen Scheißdreck in eurer Volkskammer gemacht?‹ Also solche Dinge gab es alles. Und das war natürlich das pure Leben. Das war interessant, und es war irgendwo verrückt.«
Vierzehn Tage später, am 22. August, es ist die 29. Tagung der Volkskammer, wird das Wahlgesetz wieder auf die Tagesordnung gesetzt und diesmal mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen. Im Anschluss daran, es ist bereits später Abend, stellt der Ministerpräsident überraschend den Antrag, eine Sondersitzung zum Thema Termin des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes einzuberufen.
Volkskammervizepräsident Höppner: »Da hat der Ministerpräsident das Recht dazu, das war völlig klar, also gab es eine Sondersitzung. Keine Diskussion. Das Präsidium hat dann beschlossen, die Sondersitzung gleich am Abend um 21.00 Uhr zu machen, damit nicht alle noch mal neu anreisen müssen. Ich fragte als Erstes den Ministerpräsidenten, ob er denn eine Vorlage hätte. Nein, die hätte er nicht. Also es gab keine Vorlage, überhaupt nichts! Wir hatten kei nen Beratungsgegenstand, außer dass Herr de Maizière gesagt hatte: Sondersitzung. Daraufhin habe ich gesagt, wir müssen eine Tagesordnung haben, eine Vorlage, die kann man dann mit Änderungsanträgen machen, aber irgendjemand muss doch ein Schriftstück auf den Tisch legen. Dann fiel mir ein, dass wir am 17. Juni eine Reihe von Anträgen zur Frage des Beitritts an den Ausschuss Deutsche Einheit überwiesen hatten. Ich nahm die Anträge alle wieder auf unsere Tagesordnung, dann könnten wir das mit Änderungsanträgen machen.
Dann wurde die Sitzung einberufen, immer im Fernsehen übertragen, also gut beobachtet. De Maizière trat ans Rednerpult, hielt eine bedeutende Rede über die Wichtigkeit der Festlegung des Beitrittstermins und so weiter und setzte sich wieder hin. Ich schaute mich entsetzt zu ihm um – er hätte doch jetzt wenigstens irgendeinen Termin nennen müssen. Er muss doch einen Vorschlag machen, den ich dann als Abänderungsantrag hätte verwenden können. Er machte keinen Vorschlag, und ich erfuhr auf Nachfrage, er hätte gar keinen Terminvorschlag. Ich hatte ja keinen Verhandlungsgegenstand, und damit blieb mir nichts anderes übrig, als die Sitzung zu unterbrechen und zu sagen: ›Einigt euch auf einen Termin!‹ Ich war ja dafür nicht zuständig, ging in mein Zimmer, kam wieder heraus, fragte nach dem Ministerpräsidenten und erfuhr, er würde in seinem Zimmer Akten bearbeiten. Ich bin zu den Fraktionsvorsitzenden und sagte ihnen, sie müssten jetzt etwas machen. Die standen da und tranken Kaffee.«
In dieser Nacht bemühen sich viele, einen Termin zu finden. Eins ist den meisten klar, es muss nach Abschluss der Zwei-plus-VierGespräche sein. In und zwischen den Fraktionen gibt es hektische Aktivitäten, aus denen sich jedoch die PDS raushält. Und die DSU, die ja sofortigen Beitritt beantragt hatte. Die Atmosphäre ist aufgeheizt. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Martin Gutzeit, brüllt die Parlamentspräsidentin an, sie habe ihm am Vorabend versprochen, dass der Termin des Beitritts außerhalb der Öffentlichkeit zwischen den Fraktionen gefunden wird. Sie muss ihm erklären, dass der Vorstoß des Ministerpräsidenten ja nicht vorhersehbar war.
Höppner weiter: »Ich habe das Spiel noch mal wiederholt, und dann klingelte es bei mir. Ich sagte: ›Passt auf, ich werde diese Sitzung nicht schließen, bevor wir nicht einen Beitrittstermin beschlossen haben. Und wenn das nachts um drei oder vier Uhr ist, ist mir völlig egal. Wir können uns nicht vor der Weltöffentlichkeit blamieren, eine Sondersitzung einberufen, alle stellen ihre Programme um, Kameras werden hingeschickt, und dann sagen wir die ab, weil wir uns nicht auf ein Datum einigen können? Das ist absolut unmöglich!‹ Mit den
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