Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
Sagen, noch gilt der Vier-Mächte-Status. Die Bundesrepublik kann keine offiziellen Akte in der DDR veranstalten, die DDR-Volkskammer kann nicht im Reichstag zusammentreten. Reinhard Höppner spricht mit dem stellvertretenden Botschafter der UdSSR. Man einigt sich auf den Terminus ›Kulturveranstaltung‹ und wählt das Schauspielhaus, das ja auch örtlich in der Mitte zwischen Palast der Republik, dem Sitz der Volkskammer, und dem Reichstag liegt. Dennoch muss die Botschaft die Zustimmung in Moskau einholen. Am 8. Mai findet wie jedes Jahr zum ›Tag der Befreiung‹ die traditionelle Kranzniederlegung am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow statt. Der stellvertretende Botschafter raunt Höppner im Vorbeigehen nur zwei Worte zu: »Geht klar«.
Als Festrednerin schlägt Höppner die Schriftstellerin Christa Wolf vor, die auf der Riesenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 eine vielbeachtete Rede gehalten hatte. Doch
17.6.1990, Berlin, Schauspielhaus, Gedenkveranstaltung zum Volksaufstand am 17. Juni 1953
von ihr stammt auch der Aufruf »Für unser Land«, der sich für die DDR und gegen den »Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte« richtet. Deutliches Zähneknirschen von westlicher Seite, dennoch verhaltene Zustimmung. Aber Christa Wolf lehnt ab, mit der schlichten Begründung, sie wisse nicht, was sie sagen solle. Es ist eine Zeit der Sprachlosigkeit der ostdeutschen Intellektuellen, eine Zeit der Orientierungssuche: Alle Vorstellungen des Erhalts der DDR als eines reformierten, wie auch immer gearteten Gebildes erweisen sich als illusionär. Täglich verlassen zwei- bis dreitausend Menschen die DDR. Die deutsche Einheit zeichnet sich ab. Die Rede hält dann Manfred Stolpe.
Auch auf der Festveranstaltung muss wieder auf die Besonderheiten des Viermächtestatus geachtet werden. Kohl darf nicht als Bundeskanzler, sondern nur in seiner Funktion als Abgeordneter des Bundestages auftreten. Die Volkskammerpräsidentin darf ihn demgemäß auch nicht als Bundeskanzler begrüßen. Das tut dann Rita Süssmuth in ihrer Rede – zum Entsetzen von Bergmann-Pohl: »Das war nicht das einzige Mal, dass sie mir Probleme bereitet hat!«
Am Nachmittag des gleichen Tages findet eine Sondersitzung der Volkskammer statt. Diese war notwendig geworden, weil drei Tage vorher auf der regulären Sitzung die Lesung des Treuhandgesetzes gescheitert war. Dieses musste jedoch vor dem 1. Juli, dem Termin der Währungsunion, verabschiedet sein, sozusagen als »Sicherheit der Banker«, wie Höppner es formuliert. Einige Bonner Spitzenpolitiker nutzen die Gelegenheit, um einmal eine Volkskammertagung zu erleben. Also sitzen auf der Tribüne unter anderen Helmut Kohl und Rita Süssmuth.
Es gibt Volkskammerabgeordnete, die sich durch die Anwesenheit des Bundeskanzlers sehr angeregt fühlen: »Da«, amüsiert sich Höppner, »gab es ausreichend Leute mit Geltungsbedürfnis, die da gern eine Rede halten wollten.« So meldet sich der Fraktionsvorsitzende der DSU, Hansjoachim Walter, zu Wort und fordert: »Beitritt sofort!«
»Wir haben uns dagegenstellen müssen«, erinnert sich de Maizière. »Jemand, der die deutsche Einheit will, muss sich gegen die deutsche Einheit stellen, weil ich in der Volkskammer gesagt habe: ›Meine Herren, seid euch im Klaren darüber, wenn wir das so beschließen, stehen plötzlich 380000 sowjetische Soldaten auf NATOTerritorium ohne jedwede Regelung, und damit riskieren wir eine Auseinandersetzung, die 3. Weltkrieg heißen kann!‹ Obwohl damals die Russen schon vernünftig genug waren. Aber es war ja nicht auszuschließen. Ich meine, wir haben ja ohnehin eine Situation gehabt, von der ich noch heute der Überzeugung bin, dass der himmlische Vater gesagt hat: ›Alle Schutzengel, die es in Europa gibt, im mer ständig über der DDR kreisen, damit uns nichts Außergewöhnliches passiert!‹«
Ganz anders stellt CDU-Fraktionsführer Günther Krause dieses Ereignis dar, nämlich als bewusste und vorbereitete Aktion. Der Hintergrund ist, dass der Prozess der Vereinigung ins Stocken zu geraten droht. Dies zumindest ist die Sorge von Krause, Klaus Reichenbach und Krauses engstem Berater, Ulrich Born, Fraktionsassistent der CDU und einer der Berater aus dem Westen. Sie sehen das Problem der zunehmenden Liquiditätsschwäche der DDR und erkennen, dass Lothar de Maizière nicht zu einer schnellen Eini gung zu bewegen sein wird. Von westdeutscher Seite gibt es
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