Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
erfüllt von einer neuen Demokratie, und jeder wollte dazu beitragen.«
Und Höppner ergänzt: »Eine gewisse Unberechenbarkeit gab es. Aber natürlich, diese Parteiverhärtungen, die wir heute zum Teil haben, die gab es nicht. Die hätte es auch schon im Wahlkampf vorher nicht gegeben, wenn nicht die Westwahlkämpfer immer fleißig dabei gewesen wären. Wir konnten uns gar nicht so beharken, wie man das heute tut.«
Der Anfang ist schwer, und eine der ersten Aufgaben besteht darin, die notwendige Logistik aufzubauen. Es gibt keine Arbeitsmöglichkeiten, den Abgeordneten stehen keine Räume zur Verfügung, es gibt keine Telefone und nur eine Leitung in die Bundesrepublik. Alles das war in der alten DDR auch gar nicht nötig. Zu Honeckers Zeiten traf sich die Volkskammer höchstens zweimal im Jahr, und auch nicht, um wirklich zu arbeiten, sondern um die Beschlüsse, die ganz woanders gefasst worden waren, abzunicken. Demokratiespiel.
Nun tagt man mindestens einmal in der Woche. Auf der zweiten Sitzung, am 12. April, findet die Vereidigung der neuen Regierung in der Volkskammer statt. Hier kommt es zu einem ersten Eklat, weil Lothar de Maizière sich weigert, einen Eid auf die DDR-Verfassung abzulegen. Sabine Bergmann Pohl verzweifelt: »Ich wollte bei der zweiten Volkskammersitzung schon aufgeben und zurücktreten. Es gab ein unglaubliches Tohuwabohu. Wir hatten zwar am Abend vorher schon darüber gesprochen und haben auch überlegt, wie wir einen Kompromiss zustande bekommen. Das Problem war aber nachher, dass die Abgeordneten aufsprangen, vor die Mikrofone rannten und hineinbrüllten – es war ein völliges Chaos, und ich musste die Sitzung unterbrechen. Wir haben dann einen Kompromiss gefunden und haben interfraktionell dann eine Erklärung erarbeitet, auf die Herr de Maizière seinen Eid ablegen konnte.«
Die neue Volkskammer bekommt säckeweise Post aus der Bevölkerung: »Wir haben in meinem Büro ein eigenes Team installiert, das diese Briefe gelesen und teilweise auch beantwortet hat. Ich habe dafür Leute eingestellt, die ich persönlich kannte und zu denen ich ein großes Vertrauen hatte. Es sind viele der Briefe auch an mich persönlich adressiert worden. Es war so ein Wechselspiel der Gefühle. Ich wurde beschimpft, ich wurde bedroht, wir würden es nicht professionell genug machen, wir würden uns bereichern, bis zu ganz persönlichen Schmähungen – das ist mir wahnsinnig schwergefallen, da habe ich auch immer Angst um meine Familie gehabt. Aber ich habe auch sehr viel positive Post bekommen.
Man hat mich ja nicht immer sofort über alles aufgeklärt. Ich wusste gar nicht, dass es Morddrohungen gab. Ich erinnere mich, ich bin an einem Morgen zur Volkskammer gegangen, und da waren Absperrungen rundherum. Ich habe mich wahnsinnig aufgeregt und habe gesagt: ›Ich will nicht, dass die Volkskammer, wie früher, abgeschottet ist. Jeder soll die Möglichkeit haben, hier hereinzukommen.‹ Dann wurde mir gesagt, dass es vom Innenministerium angeordnet wurde. Mein Büroleiter druckste rum, und ich wollte wissen, was da los sei, ich wollte die Barrikaden wieder abbauen lassen. ›Das geht nicht‹, sagte man mir, ›wir haben Morddrohungen.‹ Wir haben das dann doch wieder abgebaut, es war ja Quatsch, man hätte mich erschießen können beim Verlassen des Hauses.
Nachdenklich bin ich dann geworden durch eine Reaktion meines Sohnes. Die Sache ging ja auch durch die Presse, und mein Sohn war damals in der 7. Klasse. Mitten in der Stunde stand er auf, packte seine Tasche, und die Lehrerin fragte ihn, wo er hinwolle. Da sagte er: ›Haben Sie nicht das Polizeiauto gehört? Meiner Mama ist was passiert, ich muss sofort nach Hause.‹ Das treibt mir jetzt noch die Tränen in die Augen, weil mir da klar wurde, unter welchem Druck auch meine Familie stand, meine kleinen Kinder! Meine Familie hat schon unter der Situation gelitten.«
Am Vormittag des 17. Juni, einem Sonntag, gibt es im Schauspielhaus am Platz der Akademie, dem heutigen Konzerthaus am Gendarmenmarkt, eine Festveranstaltung zum Gedenken an den Volksaufstand am 17. Juni 1953. Es ist natürlich die erste Gedenkveranstaltung dieses Ereignisses in der DDR, und es ist auch die erste ge meinsame Veranstaltung der Parlamente der beiden deutschen Staaten. Der Vorschlag war von DDR-Seite gekommen. Es sind jedoch zwei komplizierte Dinge zu klären: die Frage des Ortes und die Zustimmung der Sowjets. Noch hat die Besatzungsmacht das
Weitere Kostenlose Bücher