Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
Fraktionsvorsitzenden im Flur der Volkskammer, die Journalisten um uns herum. Und wir sind erst mal in den Nachbarflur gegangen, wir hätten uns ja schlecht vor den Kameras herumstreiten können: ›Leute, die Aufgabe ist ganz einfach: Wir brauchen ein Datum. Nichts weiter.‹ Dann hörten wir, dass Bonn wohl den 14. Oktober vorgeschlagen hatte. Das war logisch, das ist die Einführung der Länder gewesen, die Wahl der Länderparlamente und ist, juristisch gesehen, eigentlich der richtige Termin. Aber wir hatten uns alle in dem Einigungsvertrag schon so viel von Bonn vorschreiben lassen, dass in diesem Fall spontan und parteiübergreifend klar war: Der 14. Oktober wird es auf alle Fälle nicht! Jetzt haben wir hier die Hoheit, und wir denken uns einen eigenen Termin aus.«
Lothar de Maizière erklärt seinen Vorstoß so: »Es war die Zeit, als wir fast in jeder zweiten Volkskammersitzung jemanden hatten mit Beitritt sofort, möglichst mit Wirkung von vorgestern. Und ich habe dann der Volkskammer gesagt: ›Heute schaffen wir Klarheit! Ich beantrage die Sondersitzung am gleichen Tag!‹ Die Geschäftsordnung der Volkskammer gab das her. Riesenaufregung! Ich erinnere mich noch, Wolfgang Ullmann kam auf mich zugerannt und sagte, er ginge jetzt zum Generalstaatsanwalt der DDR und wollte mich anzeigen, das wäre Hochverrat. Ich sagte: ›Dann mal gut zu Fuß!‹ Thierse beantragte dann plötzlich den 13. September, einen Tag nach der Unterzeichnung Zweiplus-Vier. Da musste ich erwidern, das geht noch nicht, weil die Rechte der Alliierten noch nicht abgesetzt sind, sondern erst bei der Außenministerkonferenz am 1. Oktober in New York.
Dann kam der Antrag, am 2. Oktober, da habe ich den Liberalen gesagt: ›Ja, da ist euer Ober-Guru, der Hans-Dietrich Genscher, noch in New York. Mit Zeitverschiebung kann der frühestens am 3. Oktober wieder mit dabei sein.‹ Also das war ein ziemlich kompliziertes Hin und Her. Die Situation an diesem Abend und in dieser Nacht war sehr angespannt, um nicht zu sagen chaotisch.
Es ist verhandelt worden bis in die tiefe Nacht, um 2.57 Uhr oder so was war dann die Entscheidung gefällt: Wir treten dem Geltungsbe reich des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober, null Uhr, bei!
23.8.1990, Volkskammer, Gregor Gysi, Günther Krause, Lothar de Maizière, Rainer Eppelmann (v. l. n. r.) nach dem Beschluss zum Beitritt am 3.10.1990
Und dann war der Beschluss falsch formuliert: ›Die Volkskammer beschließt den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit Datum vom 3. Oktober!‹ Und jetzt kommt der Witz: Gregor Gysi kam danach an und sagte: ›Der Beschluss ist falsch und muss heißen: Die Volkskammer beschließt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, denn so wäre ja nur die Volkskammer beigetreten, nicht das Volk der DDR.‹«
Höppner: »Wenn man jetzt die Protokolle liest, dort steht ordentlich, dass der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen worden ist. Wir haben das im Protokoll korrigiert, aber beschlossen haben wir es nicht. So viel zum Thema Improvisation in der Volkskammer. Übrigens, Gysi hat mir hinterher mal gesagt, ich solle es ja nicht seinen Leuten sagen. Wenn die erfahren, dass er den Beitritt hätte aufhalten können, würden die ihn heute noch zu Kleinholz machen.«
Oft ist behauptet worden, der Beitrittstermin wäre von Bonn vorgegeben worden. Der Verlauf dieser Sondersitzung zeigt deutlich, dass dem nicht so war. Darin waren sich die meisten Abgeordneten einig, dass es keinen 41. Jahrestag der DDR mehr geben sollte. Helmut Kohl hatte nur den Rat gegeben, es nicht im November zu machen. Seine Begründung, da sei immer so trübes Wetter. Denn er hatte schon im Auge, dass der Beitrittstermin zum Nationalfeiertag würde.
Cordula Schubert: »Nach der Abstimmung ist Gysi an das Mikrofon gegangen und hat gesagt: ›Wir haben soeben das Ende der DDR beschlossen.‹ Und alle haben gejohlt, geklatscht und festgestellt, wie toll das ist. Diese Szene ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Es war eine unwahrscheinliche Erleichterung. Das, was man wollte, war nun greifbar nah.«
Gregor Gysi: »Es waren fünf oder sechs Sätze, mehr waren es wirklich nicht. Ist ja auch nicht gerade typisch für mich, aber damals war es so. Und dann fing ich mit dem Satz an: ›Sie haben soeben nicht mehr und nicht weniger beschlossen als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik …‹ Weiter kam ich nicht.
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