Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit
Dann tobte die Union. Und dann wartete ich. Ich weiß nicht, wie lange. Eine halbe Minute, eine Minute, das kann man immer so schwer schätzen, wenn man da steht. Und dann konnte ich den Satz fortsetzen. Und dann hatte das schon etwas Nachdenkliches, weil ich ja nur gebeten habe, wenn wir beitreten, sich zu überlegen, wie man mit Biographien, wie man mit Leuten umgeht, wie wir sozusagen die Interessen in Zukunft noch verwirklichen, in drei, vier, fünf Sätzen. Und da passierte schon etwas sehr Merkwürdiges. Ich hatte gesprochen, die Sitzung war zu Ende, und es kamen zu mir de Maizière und Krause. Und, das habe ich noch nie erzählt, der Krause kam und sagte: ›Da meine Fraktion nicht wusste, was sie sagen sollte, hat sie nach dem ersten Halbsatz Unzulässig gebrüllt. Das tut mir leid, dafür wollte ich mich entschuldigen, denn Sie haben ja nichts Schlimmes, sondern nur etwas Nachdenkliches gesagt.‹ Und der de Maizière sagte mir etwas, was mich sehr nachdenklich gemacht hat. Er hat gesagt: ›Gregor, die deutsche Einheit kommt. Jetzt musst du sie auch wollen.‹ Das war sein einziger Satz.«
Richard Schröder: »Gregor Gysi, der im Großen und Ganzen ein gutes Gespür für Stimmungen hat, hat sich in diesem Fall mal völlig verkalkuliert. Er wollte nämlich mit diesem Satz die Leute nachdenklich machen. Er verband eben doch offenbar mit der DDR so viele Identitätsgefühle, dass er meinte, wenn er sagte: ›Ihr habt die Abschaffung der DDR beschlossen‹, dass dann so etwas wie Verlustgefühle aufkämen. Es war aber bei der Mehrheit der Abgeordneten überhaupt nicht der Fall, die hatten aus der Stimmung heraus gehandelt, ein Glück, dass wir sie bald los sind!«
Christa Schmidt dagegen erinnert sich, dass sie die Rede von Gysi am meisten berührt habe.
Vierzehn Tage vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wird der Palast der Republik, und damit auch die Volkskammer, geschlossen. Es hatte, auch vor 1990, widersprüchliche Gutachten gegeben, das letzte nun, die Untersuchung eines West-Berliner Institutes, ist eindeutig: Bei jeder Erschütterung, zum Beispiel durch den Straßenverkehr, rieselt Asbeststaub. Amtsminister Reichenbach, der für alle Immobilien des Ministerrats zuständig ist, und dazu gehört auch der Palast der Republik, verfügt dessen Schließung.
Gehler fällt die Aufgabe zu, die Beschäftigten des PdR, wie man in der DDR sagt, zu informieren: »Große Betriebsversammlung im Palast der Republik. Da saßen 1500 mit Parteiabzeichen vor Ihnen, und das waren wirklich Hundertfünfzigprozentige. Und die haben geschrien: ›Den müsste man gleich lynchen!‹ Also es war ziemlich hart, was ich da erlebt habe. Und denen wollte ich schlicht und einfach erklären, dass sie hier einer hohen Gesundheitsgefährdung ausgesetzt sind und dass wir hier was tun müssen. Dann haben die Wissenschaftler gesprochen. Und dann schlug mit einem Mal, ich habe so etwas noch nie erlebt, die Stimmung um, und die sagten dann plötzlich: ›Wollt ihr uns hier alle vergiften? Warum habt ihr bislang nichts unternommen?‹
Ich bin dann zu de Maizière und habe erzählt, was ich da erlebt habe. Und dann hat Thierse einen Brief von de Maizière gekriegt, weil uns bekannt war, dass der SPD-Vereinigungsparteitag da drin
19.9.1990, Berlin, Mitarbeiter des Palastes der Republik fordern auf einer Protestversammlung die sofortige Schließung des Hauses, rechts: Krisenmanager Günther Krause
stattfinden sollte. Und Thierse fragte mich noch mal: ›Sagen Sie mal, Herr Gehler, ist das denn jetzt so, dass das wirklich so belastet ist?‹ Und ich sagte: ›Ich kann es nur so sagen, ja, es ist ganz real so!‹ Thierse hat dann einen Brief zurückgeschrieben an de Maizière. Und in dem Brief stand, dass sie auf alle Fälle darauf bestehen, dass im Palast der Republik der Vereinigungsparteitag stattfindet, und die SPD würde die Verantwortung übernehmen, wenn es zu Gesundheitsschäden käme. Ein Irrsinn geradezu. Aber wir haben damals so gelebt, und auch solche Dinge wurden geschrieben. Es war eine aufgeladene Stimmung.«
Reinhard Höppner sieht die Sache eher symbolisch: »Wir wurden geradezu gezwungen, vor Ende unserer Arbeit aus dieser Volkskammer auszuziehen und unsere Tagungen dann im ZKGebäude ab zuhalten. Wir durften nicht mehr in dieser Volkskammer tagen. Begründung: Asbestverseuchung. Gut, dass der Palast der Republik asbestverseucht war, will ich nicht bezweifeln, aber wenn man da monatelang drin
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