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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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in einer Viertelstunde nach Hause, willst du stattdessen sechzehn
Euro für ein Taxi berappen? Aber da unten liegt ein Glückscent! Schäm dich,
weil du irgendetwas auf den imaginären Kommentar von Menschen gibst, die du gar
nicht kennst, du hättest sofort da hinunterspringen sollen, dann hättest du den
Cent bereits. Aber das ist doch nur ein kleines Kupferstückchen, seit wann bist
du abergläubisch? Steig in die Bahn, fahr nach Hause, gönn dir noch zwei Gläser
Wein und gut. Der Zug kam. Ich rang mit mir. Etwas in mir rang mit etwas
anderem in mir. So. Endlich gewann etwas die Überhand, das ich Vernunft nennen
möchte, weil die meisten, denen ich die Geschichte erzählen könnte, es so
bezeichnen würden. Aber ich werde die Geschichte keinem erzählen. Ich stieg in
den Zug und schämte mich. Nicht genug, um an der nächsten Station, dem Olivaer
Platz, auszusteigen, durch den Schnee zurückzulaufen und mich doch noch in den
Besitz dieses Geldstücks zu bringen. Ich schämte mich ja eher, über diese Sache
so lange nachgedacht zu haben. Dauernd wechselten die Pespektiven. Mal hielt
ich mich für abgedreht, mal für verloren, mal siegte die Einsicht, daß ich noch
nicht ganz schrullig bin, mal trauerte ich der vergebenen Möglichkeit nach, ein
Glückspfand in der Hand zu halten. Nein, das kann ich niemandem erzählen. Nicht
einmal Kati, die es sicher spaßig finden würde. Ich bin dabei überhaupt nicht
abergläubisch. Nur: Einen Glückspfennig, jetzt einen Glückscent, auf der Straße
zu finden, nach dem sich andere Menschen nicht einmal bücken würden, hat mir
stets das Gefühl gegeben, eine Weile behütet zu sein. Klingt bescheuert. Es
fällt mir schwer, das aufzuschreiben, ohne mich über meine Marotte lustig zu
machen. Indem ich die Episode aufschreibe, ist sie nicht so vorbei, wie sie es
in der Wirklichkeit ist.
    PS : Als ich nach einer unruhigen Nacht zur Arbeit fuhr
und gegen neun Uhr morgens am Adenauerplatz ausstieg, sah ich nach – der Cent
war nicht mehr da. Ein anderer hat ihn sich geholt. Sieh an. Er hat da gelegen,
für mich, ich habe ihn gesehen, erkannt in seinem Wert – und verschmäht. Jetzt
weiß ich, daß es Menschen gibt, die mutiger zupacken als ich.
    *
    Ich glaube nicht, daß wir
zusammenpassen würden. Schon allein, daß sie die Freundin von Serge ist,
spricht Bände – und nicht zu ihren Gunsten. Dennoch beginne ich Gefühle für
diese Frau zu entwickeln, und meine Skrupel, sie einem Arbeitskollegen abspenstig
zu machen, wären nicht sehr stark. Ich glaube, sie sehnt sich nach einer, mir
fällt kein kürzeres Wort ein, Zuneigungsbekundung. Ein liebes Wort, könnte man
sagen, aber das klänge zu harmlos. Eine Kampfansage. Ja. Die Ankündigung, oder,
noch offizieller: die Verlautbarung, offen mit Serge in ein
Konkurrenzverhältnis treten zu wollen. Genau das widerstrebt mir. Solange sie
mich als Ventil benutzt, ist sie heiß, wie Frauen nur außerhalb einer Beziehung
sein können. Aber hinter ihrer Lust lugt ihr Unglück hervor. Ich kann sie nicht
mehr genießen, wie ich sie genossen habe, bevor sie begann, mich mit
Geschichten über Serge vollzusülzen. Wie er sich dreimal pro Stunde die Hände
in brühheißem Wasser wäscht. Oder auf dem Ausflug nach Potsdam kurz vor dem
Ziel umdreht, um nachzusehen, ob er auch wirklich alle Kochplatten
ausgeschaltet hat. Ich meine, das hat was von Verrat und ist auf Dauer wenig
unterhaltsam, weil ständig dasselbe. Soll sie ihn doch verlassen. Ich habe für
Serge recht wenig übrig, geb ich zu. Aber wenn sie so über ihn redet, wie sie
mit mir über ihn redet, empfinde ich beinahe Sympathie für den Kerl. Einmal hab
ich mich hinreißen lassen, hab gesagt: Du bemutterst ihn ja, bist seine
Krankenschwester mehr als seine Freundin. Sie hat es mir zum Glück nicht übel
genommen. Sexuell gesehen sind wir eine effektive Zweckgemeinschaft. Klingt
kalt und funktional, kommt der Wahrheit dabei doch ziemlich nah. Oder kam der
Wahrheit nah, bevor sich diese Gefühle dazwischendrängten. Die ich aber nicht
zulassen werde. Basta. Die meisten Menschen setzen sich Gefühlen aus, als könne
man nichts tun dagegen. Wie gegen eine Stechmücke oder einen herannahenden
Schnupfen. Sie finden noch das allerblödeste Gefühl interessant und belebend
und lassen es herein, wie einen Fremden, der an der Tür um Obdach bittet. Denn
er bringt ja irgendetwas Neues, und sei es seine Fremdheit. Und später, wenn
der Fremde die Wohnung geplündert und sich fortgestohlen hat,

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