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Die letzten schönen Tage

Die letzten schönen Tage

Titel: Die letzten schönen Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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herrscht großes
Wehklagen. Wie konnt ich nur? Was hab ich da getan? Die meisten Menschen sind
überaus einladende Landeplätze für umherschwirrende Gefühle, die, genau
besehen, wenig mehr als Einbildungen oder Wunschträume sind, Begehrlichkeiten.
Hohle Versprechen. Männer, die mit einer Frau guten Sex haben, wollen diesen Zustand
so lange wie möglich bewahren. Das ist verständlich. Und sie breiten ihre Seele
wie einen Teppich aus, der betreten werden möchte, mit Füßen getreten, und
seien diese noch so zierlich und schön wie die von Kati.
    3. Dezember
    Kati ist noch nie zu
spät gekommen, nicht ein einziges Mal in mehr als drei Jahren. Jetzt sind es
schon fünf Minuten, daß ich allein im Restaurant sitze. Fünf Minuten – kann
passieren. Es ist ihr noch nie passiert, aber immer gibt es ein erstes Mal, ich
bin deswegen noch nicht sehr besorgt.
    Sie ist mit dem Rad unterwegs
und könnte einen Platten haben. Aber dann würde sie anrufen und mir mitteilen,
daß sie später kommt. Das Handy könnte keinen Saft haben, okay, aber Kati lädt
es jeden Abend auf vorm Schlafengehen, ihr Handy hat immer Saft. Und wenn es
kaputtgegangen ist? Unwahrscheinlich, denn sie hat ein relativ neues Handy.
Jetzt sind es schon zehn Minuten, und langsam werde ich besorgt, es ist glatt
auf den Straßen, überfrierende Nässe, ich hab ihr immer gesagt, fahr mit der
U-Bahn, es ist abzusehen, wann etwas passiert. Sie hat nie auf mich gehört.
Kati spart am falschen Ende und fährt lieber Fahrrad statt U-Bahn. Selbst bei
diesem beschissenen Wetter. Zwölf Minuten. Ihr muß etwas passiert sein. Jedenfalls
muß ich etwas unternehmen. Einfach so herumzusitzen hielte ich nicht aus. Ich
ruf bei ihr an. Nach zehnmal Tuten soll ich was auf die Mailbox sprechen. Ich
klappe das Handy zu, stehe auf, ohne etwas bestellt zu haben, gebe dem Kellner
ein Zeichen, daß ich vielleicht zurückkomme, später, wenn sich die Sache
aufgeklärt hat. Wenn Kati keinen Unfall hatte. Ich überlege, welche Strecke sie
genommen haben muß, aber die Strecke ist eigentlich, wenn sie von zu Hause
gekommen ist, völlig klar. Sie braucht mit dem Fahrrad nur fünf Minuten vom
Hermannplatz bis zur Bergmannstraße. Der Unfall muß also, da sie sicher
pünktlich aufgebrochen ist, zwischen acht Uhr und fünf nach acht passiert sein.
Der Notarzt trifft in dieser Stadt binnen weiterer fünf Minuten ein. Auch bei
diesem beschissenen Wetter? Auch bei diesem beschissenen Wetter. Man wird sie
sofort in ein Krankenhaus transportiert haben. Nach weiteren fünf Minuten ist
vom Vorgefallenen schon fast nichts mehr zu sehen, außer der Blutlache. Die
wird immer erst etwas später beseitigt, durch die Spezialreinigung. Aber es
liegt Schnee, alle Spuren werden die so schnell nicht verwischen können. Wenn
ich jetzt renne, auf den Hermannplatz zu, werde ich irgendwo Blut sehen, dann
habe ich Gewissheit. Ich kann ja nicht wahllos irgendwelche Krankenhäuser
anrufen. Ich muß Gewissheit haben. Ich renne. Es ist glatt, ich kann nicht
rennen, wie ich will, nur schnell gehen. Es ist jetzt 23 Minuten nach acht, und
ich erreiche die Gneisenaustraße. Das ist die logische Strecke. Mir ist schlecht
vor Aufregung. Ich suche nach Blut. Ihrem Blut. Ich könnte die Polizei anrufen.
Sie müßte wissen, ob hier vor Kurzem ein Mensch zu Tode kam. Oder schwer
verletzt wurde. Ich kontrolliere mein Handy. Es ist auf Vibrator-Alarm
gestellt, und manchmal, bei zu lauten Straßengeräuschen, überhöre ich den. Das
Display zeigt nichts an. Nie würde sie mich so lange im Ungewissen lassen, ohne
triftigen Grund. Sie wüßte, wie sehr mich das quälen würde, und ich nehme doch
an, daß sie mich noch liebt. Jetzt, um zehn nach halb neun, bin ich am
Hermannplatz angelangt, außer Atem, aber es war nichts zu sehen. Vielleicht hat
sie sich das Genick gebrochen, ganz ohne Blut, das ist möglich. Kati wurde
durcheinandergewirbelt, zerknickt und abtransportiert, wen interessiert das
groß in dieser riesengroßen Stadt? Passiert eben. Ich wußte immer, daß mir das
eines Tages nicht erspart bleiben würde. Nun ist es nicht direkt mir passiert,
aber einer Frau, die ich liebe. Was viel schlimmer ist, sehr viel schlimmer.
Was soll ich sagen an ihrem Grab? Man wird erwarten, daß ich das Wort ergreife
und diesem wunderbaren Menschen ein würdiges Epitaph widme. Ich werde dazu
nicht fähig sein. Werde wimmern und flennen. Ihre Eltern werden mir immer die
Schuld an ihrem Tod geben, denn Kati wäre noch am Leben, hätte ich

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