Die letzten schönen Tage
ich
Mitleid empfinde mit ihm und Scham wegen meines Doppellebens?
6. Dezember
Ich arbeite in einer
großen Werbeagentur und muß mir griffige Sprüche ausdenken, um die Produkte
unsrer Kunden attraktiv zu vermarkten. Das ist ein guter, beneideter Job, der
Kreativität verlangt. Ich bin, wenn man so sagen darf, ein Dichter mit goldenem
Boden. Ungut wird der Job, wenn die Kreativität ausbleibt. Dezember ist nicht
mein bester Monat im Jahr. Wenn es draußen so kalt ist und der
Weihnachtswahnsinn wütet, streikt mein Gehirn. Die Bewegung 24. Dezember hat es
gefangen genommen und in Dunkelhaft gesperrt. Erst im Januar, wenn es das
heilige neue Licht gibt, an manchen klaren Tagen, kommen die Ideen wieder, ich
kenne das. Jedes Jahr dasselbe. Man muß diese Durststrecke geschickt
überspielen, das Nötigste der Routine überlassen und, wenn sonst nichts mehr
hilft, bluffen oder eine Krankheit vortäuschen. Oder das kaum benutzte Gehirn
eines Volontärs anzapfen, aber das ist wirklich der allerletzte Ausweg, denn
mich mit fremden Federn zu schmücken, raubt mir den Schlaf. Mein Chef, Herr
Borten, Dietrich Borten, ist ein Chef, wie man ihn sich wünscht. Stets korrekt,
verständnisvoll, um Frieden und Ausgleich bemüht, liberal in allen Ansichten,
ein Menschenfreund, ich sage das ohne jeden Anflug von Ironie oder Sarkasmus.
Er nimmt fast immer Rücksicht auf meine kleinen Eigenheiten. Leider liegt in
diesem Jahr ein gewisser Ausnahmezustand vor, da trägt er keine Schuld daran.
Es geht um die neuen halterlosen Strümpfe von Passion. Ziel ist es, Frauen dazu
zu bewegen, halterlose Strümpfe zu tragen, die normalerweise keine halterlosen
Strümpfe tragen, erstens weil sie das für unbequem, zweitens weil sie das für
nuttig, drittens weil sie das für ungesund halten. Unsere Werbung muß die
Eleganz der Ware betonen, aber so tun, als wäre das Elegante auch praktisch und
bekömmlich. Unsre erste Kampagne hat man rundweg abgelehnt, und nun hat der
Chef mich, seinen besten Mann, wie er sagte, abgestellt, um den Karren wieder
aus dem Dreck zu ziehen, mit einer vorzeigbaren Mappe, möglichst noch vor
Weihnachten. Das bedeutet, in spätestens sieben, allerspätestens zehn Tagen
müßte das Konzept innerbetrieblich vorgestellt werden. So ein Schwachsinn.
Unfug. Gehudel. Wieso denn unbedingt noch vor Weihnachten? Borten meinte, er
habe das dem Kunden versprochen. Basta. Auf seinem Gabentisch werde unser
Konzept liegen. Ich weiß nicht, was es über Frauenbeine und halterlose Strümpfe
Neues zu sagen gibt. Gestern habe ich Kati gefragt, ob ihr vielleicht etwas
einfiele. Das tue ich sonst nie. Kati gegenüber Schwäche zeigen. Sie wird mich
für einen Versager halten. Und wenn ihr tatsächlich etwas einfiele? Könnte ich
das dann einfach so verwenden? Wie stünde ich da vor ihr? Zum Glück ist ihr
nichts eingefallen. Sie ist nicht die Schlaueste. Obwohl ich in meinem
derzeitigen Zustand nicht das Recht habe, über irgendwen so was zu sagen. Verwöhnen Sie Ihre Beine – und jeden, der sie
ansieht. Scheiße.
Die Stadt zieht junge Talente
in Massen an. Weil junge Menschen sich überschätzen, gehen sie dorthin, wo die
Konkurrenz am größten ist und das Risiko zu scheitern in einem ganz
unvernünftigen Verhältnis zur Erfolgsaussicht steht. Lauter kleine Idioten,
aber manche schaffen es dann doch. Weil sie brillant sind. Ideen haben. Genie
entwickeln. Viele von denen sind nur ein paar Jahre lang genial, aber das
reicht, damit sie irgendwem den Arbeitsplatz rauben, der auch nur ein paar
Jahre lang genial war. Ich bin gut. Vielleicht nicht mehr genial, wenn ich das
je war, aber ich bin gut. Ganz gut. Beständig. Abgesehen vom Dezember. Ich habe
Angst zu versagen. Angst, daß Borten Besuch bekommt von irgendeinem jungen
Provinzschlingel, den er wahnsinnig aufregend findet. Neu und erfrischend.
Vielleicht sogar, das ist sein höchstes Lob: originell. Der ihm Ideen auf den
Tisch knallt wie aus einer Stalinorgel oder dem magischen Füllhorn. Ich würde
Kati gerne heiraten. Aber sorglos heiraten kann nur jemand wie Dietrich Borten.
Der muß nicht mehr kreativ sein, der muß nur noch beurteilen, was andere
schaffen. Der ist aus dem Gröbsten raus, und wenn er mal was falsch beurteilt,
gibt es keinen Schiedsrichter, der ihm Gelb oder Rot zeigt. Mich beunruhigt
mein Wunsch, so zu werden wie Borten. Kann das das Ziel im Leben sein? Und wenn
ich arbeitslos werde? Wenn man erst mal raus ist aus der Szene, ist man raus,
und Kati in so ein Raus
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