Die letzten Tage
– Rateri I
Der See war riesig. Sie hatte ihre Schuhe, ihre restliche Kleidung und die Perücke abgelegt und wanderte nackt über den Sandstrand, der den gesamten See zu umgeben schien. Die meisten Menschen dachten wirklich, dass er das tat, aber sie wusste es besser. Einmal im Monat joggte sie um den See herum, um in Form zu bleiben. Ein Ritual, das sie gerne öfter befolgen würde, aber die Strecke war alles andere als kurz und daher blieb ihr meist nicht die Zeit. Der monatliche Termin war auch nur dadurch einzuhalten, dass sie sich dafür einen ganzen Tag nahm, an dem sie sich weigerte irgendetwas für den Geheimdienst zu erledigen.
In den letzten Monaten hatte sie hierfür immer schwieriger Zeit gefunden und im Januar und Februar hatte sie komplett darauf verzichten müssen.
Wenn ich nicht zurück zur Arbeit müsste…
Ihre Miene verfinsterte sich. So viel war verlorengegangen seit dem Ausbruch des Schattens. Nicht nur ihre Freizeitbeschäftigung, auch das Wissen und die Menschenleben die verloren waren betrübte sie. So wenig Probleme sie damit hatte Leute zu töten, das schiere Ausmaß des Todes ging weit über das hinaus, was sie selbst jemals gutheißen würde.
Sind sie wirklich alle tot? Niemand ist je derart weit in das Schattengebiet vorgedrungen, dass er die Frage beantworten könnte. Was ist, wenn…
Sie unterbrach ihre Gedanken. Sie war an den See gekommen, um einen kurzen Moment der Entspannung und Ruhe zu finden, nicht um sich Gedanken um den Schatten zu machen. Zumindest noch nicht. Das wollte sie tun, nachdem sie ihren Moment genossen hatte.
Mit Mühe zwang sie ihre Gedanken in eine andere Richtung. Der Name des Sees. Es gab nichts, was man hier hätte jagen können. Die größten Tiere in seinem Umkreis waren Insekten. Woher kam also der Name?
Eigentlich wusste sie es und mithilfe ihrer Implantate hätte sie die Information sofort zur Verfügung gehabt, aber das war nicht das Ziel der Übung. Sich immer nur auf ihre Implantate zu verlassen würde über kurz oder lang ihr Untergang sein, also durchsuchte sie ihr Gedächtnis ohne deren Hilfe.
Und tatsächlich, nach kurzer Zeit erinnerte sie sich. Der See war nach einer jungen Frau benannt, die… die was? Was war so Besonderes an der Frau gewesen, dass sie einen See nach ihr benannt hatten?
Aber sie kam nicht drauf. Mehrmals hatte sie das Gefühl es zu haben, doch dann zerrann es ihr wieder zwischen den Fingern. Es war zum Verzweifeln – aber es entspannte sie. Die Sonne auf ihrer nackten Haut, der Sand unter ihren Füßen und der völlige Verzicht auf den Implantatgebrauch war ein Gefühl, das sie schon viel zu lange nicht mehr hatte. So gut hatte sie sich seit ihrem letzten Besuch hier nicht mehr gefühlt.
Eigentlich hatte sie vor fünf Tagen laufen gehen wollen, erst einen Film am Abend, dann Laufen durch die Nacht, aber der Überfall auf den Supermarkt hatte ihr das verdorben. Nun holte sie nach, was sie nachholen konnte.
Ihr Gedächtnis noch immer nach Informationen über die Namensgeberin des Sees durchsuchend drehte sie sich in Richtung des Sees, rannte los und sprang in das kühle Wasser. Im ersten Moment als das Wasser über ihr zusammenschlug kam es ihr kalt vor, aber das Gefühl verschwand beinahe sofort als sie anfing zu schwimmen und ihre Muskeln sich aufwärmten.
Noch immer wich die Information über den Hintergrund des Namens des Sees ihr aus, aber alle möglichen anderen Informationen schwammen dafür an der Oberfläche ihres Verstands. Bei den meisten handelte es sich um triviale Dinge, die sie irgendwo aufgeschnappt hatte, aber einige andere beschäftigten sich mit ihrer momentanen Mission – und diesmal ließ sie die beruflichen Gedanken gewähren. So lange sie nicht die Oberhand gewannen, sondern sich einfach nur neu zusammensetzten und ihr am Ende einen neuen Einblick in das gewähren würden, was sie unbewusst bereits wusste, war sie zufrieden.
Nach einer halben Stunde stieg sie wieder aus dem See und ließ ihren nassen Körper in der Sonne trocknen, bevor sie ihre Kleidung überzog.
Während all der Zeit, die sie bereits hier war, war niemand weiter aufgetaucht. Noch letztes Jahr wäre der Strand zu dieser Jahreszeit, um diese Uhrzeit mit Familien mit kleinen Kindern, Studenten, Rentnern oder sogar Schulschwänzern gefüllt gewesen, aber heute? Niemand.
Ein weiterer Beweis dafür, wie sehr der Schatten das Leben der Menschen verändert hatte. Wie verängstigt die Leute waren, wenn sie nicht mal mehr
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