Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
eine gute Idee schlecht umgesetzt wird, das Problem ist, dass sie für die Praxis nicht taugt. Man kann utopische Vorstellungen haben, man muss nur wissen, wie man mit ihnen umgeht. Die Juden zum Beispiel beten jeden Tag für die baldige Ankunft des Messias – und tun dabei alles, damit er nicht kommt, denn sie wollen keinen zweiten Super- GAU riskieren. Ein Sozialist kann ruhig an die klassenlose Gesellschaft glauben, solange er sich der Tatsache bewusst ist, dass der Horizont ein Ziel ist, dem man zwar näherkommen kann, wenn man sich viel Mühe gibt, das man aber nie erreichen wird. Wer es dennoch schafft, dem ist ein Platz im Gulag sicher.
Die EU aber ist eine ziemlich reale bürokratische Kopfgeburt, die mit einem riesigen Aufwand in Bewegung gehalten werden muss. Stillstand würde Absturz bedeuten. Das wusste schon der ehemalige Präsident der EG -Kommission Jacques Delors: »Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.« Oder, um es mit Hanns Dieter Hüsch zu sagen: »Das Nichts läuft auf vollen Touren.« So wie ein Hamster in einem Tretrad rennt und rennt, ohne von der Stelle zu kommen.
Ich bin mir ziemlich sicher: Die meisten Eurokraten wissen, dass sie an einem beschäftigungstherapeutischen Programm teilnehmen. Einige wissen es von Anfang an, bei anderen stellt sich diese Einsicht erst im Laufe der Zeit ein. Dann stehen sie vor der Sinnfrage und suchen Hilfe bei einem der Psychotherapeuten, die sich auf die Behandlung von EU -Patienten spezialisiert haben. Die kommen dann in der Pause zwischen zwei Terminen, legen sich auf die Couch und wollen getröstet werden, wie mir eine seit 30 Jahren in Brüssel praktizierende Therapeutin erzählt hat. Es ist ihnen klar, dass sie einer vollkommen sinnfreien Tätigkeit nachgehen, aber da gibt es auch ein paar Versuchungen, denen sie nicht widerstehen mögen. Sie können ihre Autos folgenlos im Halteverbot abstellen; sie werden mehr als ordentlich entlohnt; sie lassen lustlose Ehefrauen und lärmende Kinder im Reihenhaus mit Garten zurück, um in der Anonymität einer großen Wohnanlage das kleine Abenteuer mit einer Geliebten zu genießen, manchmal sogar zwei, einer in Brüssel, einer in Straßburg. All das sind »windfall benefits«, deren Attraktivität man nicht unterschätzen sollte.
Manche gehen die Sache auch ganz pragmatisch an, wie zum Beispiel Lothar Bisky, 72, der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Kulturwissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig studiert hat, bevor er mit einer Arbeit »Zur Kritik der bürgerlichen Massenkommunikationsforschung« zum Professor habilitiert wurde, um danach unter anderem an der » Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED « zu unterrichten. Zur Zeit der Wende war er Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und Herausgeber der sozialistischen Tageszeitung »Neues Deutschland«. Bisky, der im Alter von 18 Jahren aus Schleswig-Holstein in die DDR zog, um dort das Abitur zu machen, trat 1963 der SED bei, manövrierte die Partei durch die stürmischen Zeiten des Umbruchs, Hand in Hand mit Gregor Gysi. Er war von 1993 bis 2000 und von 2003 bis 2007 Vorsitzender der PDS und von 2007 bis 2010 zusammen mit Oskar Lafontaine Vorsitzender der Linkspartei, die ihn 2009 als Spitzenkandidaten bei den Europawahlen aufstellte. Nach seinem Einzug in das Europaparlament gab er den Parteivorsitz auf. Ein Urgestein der DDR , mit allen Abwassern des real untergegangenen Sozialismus gewaschen, macht nun Europapolitik. Seiner Qualifikation entsprechend hat er im Europaparlament zwei Ämter inne: Stellvertretender Vorsitzender im » Ausschuss für Kultur und Bildung « sowie Stellvertreter in der » Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China «.
Bei den Dreharbeiten für die »Europa-Safari« sind wir Lothar Bisky zufällig über den Weg gelaufen. An einem Donnerstag, kurz nach 13 Uhr, am Ende einer Sitzungswoche des Parlaments in Straßburg. Es war eine Szene, die ich nie vergessen werde. Wir standen im Innenhof des Parlamentsgebäudes und schauten zu, wie Hunderte von Abgeordneten und deren Mitarbeiter dem Ausgang zuströmten. Und alle hatten es furchtbar eilig. Das Geräusch der Rollkoffer auf dem Kopfsteinpflaster hätte auch zu einer Stampede in einem Western gepasst. Ich musste an den Auszug der Israeliten aus Ägypten denken. Plötzlich erkannte ich in der Menge Lothar Bisky, gab unserem Kameramann ein Zeichen und stürmte auf den
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