Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
die deutsche Kanzlerin: »Wir hatten eine wunderbare Zeremonie, für uns Europäer, die wir in einer nicht einfachen Situation sind. Und wir gehen ermutigt nach Hause, wir sind beeindruckt und wir kennen unsere historische Verantwortung.« Von den 27 Mitgliedsstaaten der EU waren etwa 20 mit ihren Präsidenten oder Regierungschefs in Oslo vertreten. Zu den wenigen Abwesenden gehörte auch der britische Premier David Cameron. Es seien schon genug Politiker da, um den Preis entgegenzunehmen, erklärte er aus der Downing Street in London.
Sie werden sich nun fragen, wie ich darauf komme, einen so weiten Bogen zu schlagen – von Neville Chamberlain über Nicole bis zu der Osloer Friedensnobelpreisfeier. Ganz einfach: Sollte irgendjemand ein Lexikon der europäischen Friedensinitiativen schreiben, hätte ich die wesentlichen Vorarbeiten für ihn schon erledigt. Und zweitens: Es macht keinen Unterschied, ob Nicole den Eurovision Song Contest gewinnt oder die EU den Friedensnobelpreis bekommt. Beides gehört in die Abteilung Showbusiness. Während aber die Naivität von Nicole nicht gespielt war, wussten die in Oslo versammelten EU -Gesellschafter, dass sie an einer Agitprop-Veranstaltung teilnahmen. Es war, als hätte das Politbüro der KPdSU eine Feier zu Ehren des Zentralkomitees organisiert, zu der die Vertreter der Bruderstaaten angereist kamen, um Grußbotschaften abzuliefern.
Allem Pomp zum Trotz lag aber doch ein Schatten über dem Fest. Was war es noch mal, wofür die EU den Friedensnobelpreis bekommen hatte? Sogar dem nie um einen Spruch verlegenen Martin Schulz fiel es nicht leicht, auf diese Frage eine kohärente und überzeugende Antwort zu geben. Im »Morgenmagazin« von ARD und ZDF mäanderte er um den kalten Brei herum:
»Dass wir in Zeiten der Krise, wo Leute zweifeln, was ich übrigens auch verstehen kann, die EU ist nicht in einem guten Zustand, dass in solchen Krisenzeiten wir eine Warnung kriegen, das große Erbe des 20. Jahrhunderts, diese Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft nicht aufs Spiel zu setzen, das ist der Sinn dieser Preisverleihung, und ich empfinde das heute als eine Aufgabe, dass das, was wir manchmal nicht so ernst nehmen, was uns nichts mehr wert ist, dass es hier nämlich Frieden und Solidarität gibt wie nirgendwo anders auf der Welt, nirgendwo, kein Kontinent ist so friedlich und so stabil trotz aller Probleme die wir haben, wie Europa, dass uns das nichts mehr wert ist, dass wir das jeden Tag schlecht reden, da sagt das Nobelpreiskomitee, Leute, hört damit auf, erinnert euch an das große Erbe, das ihr habt, und deshalb ist das auch eine Warnung heute an uns, das Erbe unserer Väter und Mütter nicht zu verspielen …«
Wenn ich jemanden vom »Erbe unserer Väter und Mütter« reden höre, gehen bei mir alle Warnlampen an. Das ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Deutschen mit den Franzosen, die Polen mit den Italienern und die Schotten mit den Walisern verständigen können, das ist der zweitgrößte Unfug, gleich nach der oft zitierten und nie dagewesenen deutsch-jüdischen Symbiose. Ich will Martin Schulz zugutehalten, dass er unter dem »Erbe unserer Väter und Mütter« all das versteht, worüber Gymnasiasten Besinnungsaufsätze schreiben: Hegel und Kant, Florence Nightingale und Albert Schweitzer, John Stuart Mill und Giacomo Casanova, Madame Bovary und Lady Chatterley, das Bauhaus und die Loreley. Aber zum »Erbe unserer Väter und Mütter« gehört auch die europäische Appeasement-Politik gegenüber Hitler, das Münchner Abkommen, mit dem die Tschechoslowakei dem »Frieden für unsere Zeit« geopfert wurde, und die Konferenz von Evian im Jahre 1938, bei der sich die Vertreter von 32 Nationen auf keinen Rettungsplan für die bedrängten deutschen Juden einigen konnten. Das »Erbe unserer Väter und Mütter« ist eine moralisch und politisch negative Bilanz. Dazu zählt auch, dass unsere Väter und Mütter zweimal im Laufe des letzten Jahrhunderts aus dem Schlamassel herausgeholt werden mussten, in das sie sich selber hineinmanövriert hatten. Die Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft, von der Schulz spricht, verdankt ihren Frieden und ihren Wohlstand der Intervention fremder Mächte, dem Marshall-Plan und dem Umstand, dass die Amerikaner ein halbes Jahrhundert lang ihre schützende Hand über Westeuropa gehalten haben.
Irgendjemand aus seinem 38-köpfigen »Kabinett« hat es versäumt, Schulz darauf aufmerksam zu machen, dass die Aussage, kein
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