Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Kontinent sei so friedlich und so stabil wie Europa, die Situation nicht ganz erfasst. Es ist bestenfalls eine Momentaufnahme. Spult man den Film ein wenig zurück, wird man an den Bau der Mauer, an die Aufstände in Prag und Budapest, an den Bürgerkrieg in Jugoslawien erinnert; die Diktatur in Weißrussland und das Abgleiten Ungarns in eine semifaschistische Demokratur sind offenbar nur kleine Kratzer an einem ansonsten glanzvollen Gesamtkunstwerk. Und außerdem: Wenn irgendein Kontinent die Prädikate »besonders friedlich« und »besonders wohlhabend« verdient, dann ist es nicht Europa, sondern Australien. Sorry, es ist nun mal so.
Möglich, dass Martin Schulz das Nobelpreiskomitee durchaus richtig versteht, das schon andere schwer nachvollziehbare Entscheidungen getroffen hat, die tagespolitischen Situationen geschuldet waren. Vielleicht wollte das Komitee tatsächlich eine »Warnung« aussprechen. Aber wovor? Und an wen? Sollten die Europäer davon abgehalten werden, gegeneinander Kriege zu führen? Wie einst die Bayern gegen die Österreicher oder die Preußen gegen die Sachsen? Nein, so weltfremd können nicht einmal norwegische Friedensfreunde sein.
Das Komitee hatte etwas anderes im Sinn. Wir sollten damit aufhören, Europa »jeden Tag schlecht(zu)reden«. Dann allerdings hätte die EU nicht den Friedensnobelpreis, sondern einen Preis der Deutschen Public Relations Gesellschaft für gelungene Selbstdarstellung verdient. Dass es dann doch der Friedensnobelpreis wurde, hat, so widersprüchlich es sich anhört, in der Tat etwas mit »Frieden« zu tun. Wer die EU schlechtredet, der stört den Frieden in der EU . Es sei denn, er übt »konstruktive Kritik«, wie man alles noch besser machen könnte. Das ist dann zwar keine Kritik, sondern PR , aber sie kommt eben dem Frieden zugute.
Und hier tut sich eine weitere Parallele zur Politik der guten alten Sowjetunion auf. Natürlich war in der SU Kritik erwünscht, vor allem Selbstkritik. Prinzipiell konnte man alles kritisieren, nur das System als solches durfte nicht in Frage gestellt werden. Denn es war ein Garant des Friedens. Das war das finale Argument, mit dem alles rechtfertigt wurde: Berufs- und Reiseverbote, Pressezensur, Denunziantentum, Scheinwahlen und die Privilegien der herrschenden Klasse. Die Opfer, die das gemeine Volk bringen musste, waren Beiträge zur Sicherung des Friedens.
Das ist inzwischen auch die amtliche Strategie der EU . Angesichts der Tatsache, dass sich die wirtschaftliche Situation in den meisten EU -Ländern (natürlich nicht in der Bundesrepublik, der Zugmaschine, an der die Waggons hängen) bestenfalls verschlimmbessert hat, wird die Friedenskarte ausgespielt. Das bisschen Arbeitslosigkeit, Bevormundung, Enteignung, Gleichschaltung und demnächst auch Inflation sind nicht angenehm, aber doch kein zu hoher Preis für die Wahrung des Friedens. Sozusagen ein überschaubarer Kollateralschaden. Es kommt schließlich nicht nur auf materielle Werte an. Man muss auch Ideale haben, Utopien, Visionen!
Nun ist es so, dass die Friedensbewegung den größten Zulauf in Friedenszeiten hat, so wie die Antifa überall dort gedeiht, wo es keinen Faschismus gibt. In Kriegszeiten haben die Menschen keine Zeit, für den Frieden zu demonstrieren, weil sie mit dem Überleben beschäftigt sind. Wenn der Frieden aber mehr als nur die Abwesenheit von Krieg sein soll, dann muss dieser Zustand metaphysisch überhöht werden. Nicht als eine Selbstverständlichkeit, die es einem ermöglicht, in Ruhe bei IKEA einkaufen zu können, sondern als ein Geschenk, für das man einer höheren Macht Dank schuldet. Und da nur noch ein paar Fundis an Gott glauben, bietet sich die EU als Ersatz und Adressat an.
Damit kann man auch erklären, warum » EU -Kritiker« und » EU -Skeptiker« wie Häretiker behandelt werden, die morgens mit Weihwasser gurgeln und abends Käsehäppchen auf Oblaten servieren.
Erinnern Sie sich noch an die Reaktionen auf den Ausgang der Parlamentswahlen in Italien im Februar 2013? Die Bewegung des Komikers Beppe Grillo und die Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi hatten zusammen beinahe die Mehrheit der Stimmen erhalten, ein Ergebnis, das vor allem deutsche Kommentatoren zur Verzweiflung trieb.
»Italiens Chaos-Wahl wird zur Gefahr für Europa«, titelte Spiegel Online, das Ergebnis sei »ein Schock für Europa – es ruft dem ganzen Kontinent eine Krise ins Bewusstsein, die viele schon für überwunden glaubten«;
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