Die letzten Tage von Hongkong
lieber die Tür ab. Wer weiß, was uns die Leute sonst andichten, wenn sie hier reinplatzen.« Sie sah ihn an und hob eine Augenbraue.
Dann verschloß sie die Tür, nahm seine Hand und führte ihn zu einem kleinen Fenster mit Blick auf einen Berg hinter dem Haus. In dem Raum war es dunkel, abgesehen vom Schein der Sicherheitslampen vor dem Gebäude und den Lichtern an der Bergstraße. Etwa alle dreißig Sekunden fuhr ein Wagen um eine Kurve der Straße und erhellte das Zimmer. Chan stand bewegungslos da, während sie seine Hand massierte. Ihr Kleid war tiefrot und kontrastierte mit ihren schwarzen Haaren. Es war genauso teuer wie die der anderen Gäste, aber an ihr sah es doppelt so schön aus. So nahe bei ihr roch er ihr Parfüm und darunter einen leichten Moschusduft, an den er sich noch aus der Kindheit erinnerte. Gerüche konnten wie Fingerabdrücke sein.
Ihre Stimme klang voll, rund, selbstbewußt; sie war die geborene Prinzessin, und es fiel ihr leicht, diese Leute zu bezaubern. Jedenfalls, wenn sie dazu aufgelegt war. An diesem Abend lag ein Schimmer in ihren Augen.
»Wir haben gerade Probleme, Jonathan und ich. Ich weiß nicht, wie viele solcher Einladungen ich noch aushalte. Er ist völlig ausgerastet, als ich mich geweigert habe, eine dreireihige Perlenkette zu tragen, die er mir letzte Woche gekauft hat.«
»Wie selbstsüchtig von ihm.«
»Ich weigere mich, mich ausstaffieren zu lassen wie ein Schoßhündchen. Ich habe auch nichts gegen eine Party hin und wieder, aber er macht das jeden Abend. Manchmal nehmen wir zuerst irgendwo einen Cocktail und gehen danach noch zum Essen zu anderen Freunden – das ist alles so künstlich. Wieso grinst du so?«
»Die Probleme der Reichen – wie hältst du das nur aus?«
»Es ist mir ernst; wir werden einen Kompromiß finden müssen.«
»Vielleicht eine zweireihige Perlenkette?«
»Klugscheißer. Weißt du, manchmal habe ich das Gefühl, Mama zu verraten, wenn ich dieses Leben führe.«
Er zündete sich eine Zigarette an, ohne ihr eine anzubieten. »Das ist ein bißchen weit hergeholt.«
»Ja? Na schön, wenn du schon so schlau bist, dann sag mir doch bitte, was dir an den ganzen Leuten da draußen aufgefallen ist, besonders an den Chinesen.«
»Abgesehen von Reichtum, Arroganz und einem bemerkenswerten Mangel an Tiefe – nichts. Sie sind mir alle widerlich glücklich vorgekommen.«
Sie senkte die Stimme. »Genau. Die meisten davon sind Freunde von Emily. Jonathan hat sie ihretwegen eingeladen. Sie macht hauptsächlich Geschäfte mit der Volksrepublik China und steht auf du und du mit General Xian, der ist ein ganz großer Fisch. Es sind nur noch zwei Monate, bis die Kommunisten hier einmarschieren, und die Leute da draußen sind glücklich und haben nicht die geringsten Sorgen. Warum leiden die nicht unter der Juni-Neurose? Weil sie rechtzeitig Verbindungen aufgebaut haben, guanxi, wie alle das jetzt nennen, zu den Verbrechern auf der anderen Seite der Grenze. Denen kann nach dem Juni nichts passieren. Deswegen sind sie so glücklich.«
Chan zuckte mit den Achseln. »Heroischer Widerstand bringt nichts. Sie sind nur schlau – um eine Invasion zu überleben, muß man mit dem Eindringling fraternisieren.«
Jenny machte ein finsteres Gesicht. »Das glaubst du doch nicht wirklich. Du sagst das bloß, weil ich mit diesen Leuten zusammen sein muß, in guten und in schlechten Zeiten. Mir kommt das vor wie Kollaboration.« Sie sah ihn an. »Du verachtest mich genauso sehr wie ich mich selbst. Vielleicht sogar noch mehr. Eigentlich kannst du Jonathan nicht ausstehen – warum hast du mich ermutigt, ihn zu heiraten?«
Chan sah sie lächelnd an; sie kannte die chinesische Antwort auf diese Frage. Ihr Aussehen hatte sie über ihre Herkunft erhoben; das war seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr so. Sie gehörte von Geburt an dem Schönheitsadel an. Das hing nicht nur mit ihrem Aussehen zusammen, sondern auch mit ihrer Anmut, ihrer Eleganz und ihrer Haltung, die mühelos alle Klassenschranken überwand. Es wäre dumm von ihr gewesen, das nicht auszunutzen, solange sie konnte. Wie viele attraktive Frauen aus Familien wie der ihren landeten schließlich in Bars und Nachtklubs? Das hätte ihm das Herz gebrochen. Seine Aufgabe als großer Bruder bestand nicht darin, zugunsten der kleinen Schwester romantisch zu denken; seine Pflicht war es vielmehr, sie vor Armut und Schande zu bewahren – eine Pflicht, die er durch eine gesellschaftlich clevere Aktion erfüllt hatte: Er
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