Die letzten Tage von Hongkong
Die Kleidung hatte viel damit zu tun. Die Männer trugen Anzüge von Kent and Curwen, Ermenegildo Zegna oder Yves Saint Laurent; Chans weiß-blau gestreifter Anzug war in gewesen, als er ihn sich für Jennys Hochzeit gekauft hatte, doch jetzt hatte er Schweißflecken unter den Armen, und das linke Revers war vollgekleckert. Trotzdem hätte er das hingekriegt, wenn er wie diese Leute lange genug mit viel Geld gelebt hätte, das die Bewegungen verlangsamt, die Nerven beruhigt und alle Reaktionen beeinflußt, als bestünde das Leben darin, durch flüssiges Gold zu schwimmen.
Als Angie zur Toilette ging, lehnte er sich mit einem Glas Bier in der Hand gegen die Wand und beschwor Erinnerungen an all die Mörder herauf, mit denen er es in seinem Beruf je zu tun gehabt hatte: Schützen, Messerstecher, Würger, Schläger und Hackebeilschwinger. Sie alle hatten ihr Können auf häusliche Streitereien oder Bandenfehden verschwendet, statt es nutzbringend auf einer Party wie dieser einzusetzen.
Die mit weißen Jacken bekleideten und für diesen Abend angeheuerten chinesischen Kellner machten ihn nervös. Sie erspähten mit scharfem Blick jedes leere Glas und schlichen sich von hinten an, um es aufzufüllen. Ihre Höflichkeit und ihre Hingabe waren unerschütterlich und wirkten auf Chan zutiefst deprimierend. Als er siebzehn gewesen war, hatte seine Tante ihn vor die Wahl zwischen zwei Berufen gestellt: Polizist oder Kellner. Er selbst hätte in der weißen Jacke stecken und die Leute mit einem unterwürfigen Lächeln bedienen können, hinter dem sich böse Gedanken verbargen.
Als Angie wieder zurück war, zeigte er ihr die Wohnung und verharrte besonders lange in den leeren Räumen. Die neue Unterkunft war zu groß für ein Paar und die Bediensteten, aber dahinter steckte eine einfache Überlegung: Teure italienische Möbel, die seine Schwester und ihr Mann ohnehin schon im Übermaß besaßen, konnten längst nicht so viel ausdrücken wie eine über vierhundert Quadratmeter große Wohnung. Die meisten Leute hier lebten in Behausungen, die nicht einmal ein Zehntel so groß waren. In Hongkong drückte sich wahrer Reichtum durch Raum aus.
Als Chan die Tür zum vierten Gästezimmer öffnete, hörte er Murmeln und schweres Atmen. Angie blieb stehen, doch Chan betrat das Zimmer gerade lange genug, um einen Blick auf einen Mann mit westlichem Gesicht und eine chinesische Frau zu erhaschen, die einander umarmten. Von dem Körper des jungen Mannes, der mit dem Rücken gegen das Fenster gepreßt dastand, das Hemd fast ganz ausgezogen, war mehr zu sehen als von dem ihren. Die Frau, die sich gegen ihn gedrückt hatte, wandte sich um, warf Chan einen Blick zu und widmete sich dann wieder ihrem Partner. Chan hatte in dem kurzen Moment ein langes Kinn erkannt; von hinten bestand die Frau hauptsächlich aus schwarzen Haaren, kräftigen Schultern und einem silberfarbenen Kleid, das wie Wasser glitzerte und ungefähr achtzig Prozent ihrer Rückenwirbel enthüllte. Er schloß die Tür ganz vorsichtig bis auf die letzten paar Zentimeter, dann schlug er sie mit lautem Knall zu. Angie grinste.
Sie kehrten wieder zu den anderen Gästen zurück, doch nach einer Dreiviertelstunde gestand Angie, daß es ihr auch nicht mehr gefiel. Die Frauen machten sich lustig über ihr billiges Baumwollkleid, und die britischen Männer zuckten zusammen, wenn sie ihren Akzent hörten. Die Chinesen nahmen lediglich zur Kenntnis, daß sie kein Geld hatte, und ignorierten sie dementsprechend.
Chan deutete mit dem Kinn in Richtung Tür. »Gehen wir.«
Angie lächelte ihn dankbar an. »Ist schon okay, ich halt’s noch zwanzig Minuten aus. Solltest du nicht einmal mit deiner Schwester und deinem Schwager sprechen?«
»Wahrscheinlich schon.«
»Deswegen sind wir doch hier, oder?«
Chan zuckte mit den Achseln. »Du weißt ja, wie das ist auf Partys. Ich habe keine Ahnung, warum sie mich eingeladen hat.«
Angie sah verblüfft aus. »Aber sie ist deine Schwester, Charlie. Sie liebt dich.«
Chan nickte. »Ja, du hast recht.«
Er sprach einen Strafverteidiger an, den er kannte und mit dem Angie sich unterhalten konnte, während er auf der Suche nach Jenny in die Küche ging. Sie instruierte dort gerade das Hausmädchen von den Philippinen. Jonathan Wong, Jennys Ehemann, unterhielt sich mit einer berühmten Chinesin, von der Chan Fotos in den Klatschspalten der Zeitungen gesehen hatte. Er erkannte sie auch an ihrem Kleid. Es war silberfarben und glitzerte wie
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