Die letzten Tage von Hongkong
verwunden?«
»Vielleicht.«
Sie ließ die Arme sinken. »Du magst mich nicht.«
»Doch, sehr. Können wir uns ein andermal unterhalten?«
Sie kaschierte ein Schmollen mit einem Lächeln. »Klar.«
»Ich hab’ gedacht … nun, du bist sehr beliebt bei den Männern. Es gibt doch sicher jemanden in deinem Leben.«
Sie schüttelte den Kopf. »So leicht ist das auch wieder nicht, mein Freund. Die weißen Männer sind hinter den Asiatinnen her wie der Teufel hinter der armen Seele, und die besten Chinesen bleiben unter sich.«
»Also bleib’ nur noch ich übrig?«
Sie drückte seinen Arm und küßte seinen Nacken. »Du bist irgendwie animalisch, Charlie. Das törnt mich an.«
Ihre kleine Hand glitt geübt zwischen seine Oberschenkel und zeichnete die Konturen seines Penis nach. Er nahm ihre Hand und legte sie, weil er nicht so recht wußte, was er sonst damit tun sollte, um seine Taille. »Hat sich der blonde Typ nicht deine Telefonnummer geben lassen?«
Sie seufzte tief, und ein wenig verärgert sah sie zum schwarzen Himmel hinauf. »Du bist wohl immer im Dienst, was?«
Vor seinem geistigen Auge stellte er sich die beiden vor: Zwei Australier, weit weg von zu Hause, die einander mit Rugbywitzen und trunkenem Sex trösteten. Hongkong gab nur vor, oberflächlich, derb und flüchtig zu sein. Unter der Oberfläche schwelte tiefer Zynismus, der einen nach einer Weile erschreckte. Und dann entsetzte. Wenn der schöne blonde Junge und Angie Geschichten über die lüsterne Emily Ping und den animalischen Chief Inspector Chan austauschten, geschah das aus angelsächsischer Erleichterung darüber, aus einer undurchschaubaren östlichen Falle entkommen zu sein. Sie würden einander in die runden blauen Augen schauen und … nun, bis auf den Grund sehen. Es wäre besser gewesen, wenn sie unhöflich genug gewesen wäre, gleich nach der Party mit ihm mitzugehen.
»Er wird dich morgen anrufen«, sagte er lächelnd, als er sie in ein Taxi setzte. Eigentlich hatte er vorgehabt, selbst eins zu nehmen, aber dann beschloß er, doch zu Fuß zu gehen. Befreit von dem Druck, Angie verführen zu müssen, wanderten seine Gedanken zurück zu dem Fall. Es gab ein Sprichwort von Konfuzius – oder war es ein Ausspruch von Raymond Chandler? – Zerbrich dir nicht den Kopf über ein Rätsel, das bereits gelöst ist.
Mit anderen Worten: Vergiß die Schneidezähne. Vergiß die gedämpften Schmerzensschreie. Warum hatte Polly, eine attraktive Nichtasiatin, ihre Zähne nicht besser gepflegt? In ihrer Kultur gehörten Menschen, die sich nicht pflegten, einer besonderen Kategorie an. Was veranlaßte eine junge Frau, sich gehenzulassen, sich nicht mehr um das eigene Wohlbefinden zu kümmern? Nicht unglückliche Liebe – nicht mehr heutzutage. Genußsucht, Faulheit, pubertäre Abenteuerlust, die auch im Erwachsenenalter nicht aufgehört hatte?
Es lief letztendlich alles wieder auf Drogen hinaus. Drogenverkauf brachte Geld; Drogenmißbrauch brachte Abenteuer; gemeinsamer Drogengenuß brachte Gesellschaft; Drogenrezepte brachten die Heilung. Die Erste Welt war drogensüchtig. Illegale Drogen waren nur die Spitze des Eisbergs. Dazu kamen Barbiturate und Amphetamine und das ganze Spektrum der Antidepressiva. All das hatte sich erst in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts so entwickelt.
Chan dachte fünf Zigaretten lang über diese Fragen nach. Als er aus der U-Bahn-Station in Mongkok kam, merkte er, daß er nur noch zwei Zigaretten in seiner Packung hatte. Er hatte die Tabakfirmen ganz vergessen. Und die Brauereien und Schnapsbrennereien. Gab es überhaupt noch einen Menschen auf der Welt, der die Realität in aller Deutlichkeit wahrnahm?
In den frühen Morgenstunden waren die Straßen von Mongkok nicht ganz so voll. Jetzt konnte man einzelne Menschen erkennen und nicht nur Gruppen, obwohl es nicht im Wesen der Asiaten lag, allein zu sein. Die Hitze brachte den Schlafrhythmus durcheinander. Liebespaare spazierten Hand in Hand dahin wie am frühen Abend, Kinder spielten, eine alte Frau in Lumpen bettelte. Ein Schwarm Stare zwitscherte auf einer Straßenlaterne, während kleine Fledermäuse zum Sturzflug ansetzten. Nur Chan war völlig allein. Er ging mit schnellen Schritten auf einen kleinen Supermarkt ganz in der Nähe seiner Wohnung zu, der englische Zigaretten im Sortiment hatte. Und da war noch eine Frau mit westlichem Gesicht, Ende vierzig, vielleicht auch Anfang fünfzig, die sich aus den Schatten löste, als er an ihr
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