Die letzten Tage von Hongkong
vorbeiging.
Aus reiner Gewohnheit fertigte er eine Beschreibung an: Sie war ungefähr einssiebzig groß, schmutzig blond, trug weite, schwarze Shorts und ein rotes T-Shirt ohne Büstenhalter, und ein besonders großer Geldgürtel war um ihre Taille geschlungen. Sie ging ein wenig nach vorne gebeugt, war schlank und hatte schwere Brüste. Sie wirkte sinnlich. An den Füßen trug sie Turnschuhe und Socken – also war sie Amerikanerin. In dieser Hitze trugen alle anderen Nationalitäten Plastiksandalen, doch die Amerikaner hatten Angst vor der asiatischen Erde. Die Frau machte ein mißmutiges Gesicht. Sie hatte sich nicht verlaufen, weil sie nicht versuchte, sich an Straßenschildern zu orientieren; sie schien eher kein Ziel zu haben. Sie paßte nicht ins Bild. Die Touristen blieben im allgemeinen auf Hong Kong Island oder in Tsim Sha Tsui und kamen nicht nach Mongkok. Er drehte sich einmal um, um sich ihr Gesicht im Schein einer Straßenlaterne anzusehen. Möglicherweise hatte sie Alkoholprobleme.
Sie folgte ihm in den Supermarkt. Er ging ans Ende einer Regalreihe und nahm ein paar Rikshaw- Teebeutel . Die Zigaretten befanden sich in einem Glasschrank neben der Kasse. Als er den Blick hob und in den Sicherheitsspiegel schaute, sah er, wie sie eine kleine Flasche Whisky in ihrer Tasche verschwinden ließ. Chan blieb bei den Teebeuteln stehen. Einerseits regte sich sein Gewissen als ordentlicher Bürger, andererseits war der Inhaber des Ladens ein reicher Chiu Chow namens Fung, der selbst auf seine Sachen aufpassen konnte. Außerdem war es spät, und er hatte keine Lust, den Rest der Nacht Formulare auszufüllen. Er schaute noch einmal in den Spiegel. Diesmal waren es eine Zahnbürste und Zahnpasta. Wirklich riesige Taschen hatten diese Shorts.
Chan zuckte mit den Achseln. Fung war reich genug, um sich ein elektronisches Überwachungssystem leisten zu können. Das hatte Chan ihm mehr als einmal gesagt. Er schlenderte zur Kasse und wurde noch langsamer, als er an ihr vorbeikam. Sie wechselten Blicke. Müde Augen. Sehr, sehr müde. Keine Spur von Angst. Ein Rätsel zuviel für diese Nacht. Er kaufte fünf Packungen Benson and Hedges und trug sie in einer Plastiktüte zu seiner Wohnung in einer Seitenstraße der Nathan Road.
Im Erdgeschoß blieb er stehen, um in seinen Briefkasten zu schauen: eine Stromrechnung und eine Postkarte von Sandra. Er als Chinese hatte gedacht, daß eine Scheidung etwas Endgültiges sei, doch die Engländer neigten dazu, an ihren Fehlgriffen festzuhalten als Beweis dafür, daß alle Versuche ohnehin sinnlos waren. Die Karten kamen in unregelmäßigen Drei-Monats-Abständen von exotischen Stränden, an denen sich Aussteiger versammelten. Sie waren entweder wehmütig (»heute nacht hab’ ich Dich im Traum auf einem chinesischen Teppich fliegen sehen«) oder aggressiv (»bin ich froh, daß Du nicht hier bist, um mich zu frustrieren«). Diese Karte hatte sie aus Ko Phangan am Golf von Thailand geschrieben: »Du gehst mir überhaupt nicht ab.« Er reihte sie in die Kategorie der aggressiven Karten ein und steckte sie zu den Zigaretten in die Plastiktüte.
Als er mit der Hand die Innenseite des Briefkastens abtastete, geriet ein einzelnes Blatt Papier zwischen seine Finger, das fest an der Rückseite geklebt hatte. Er sah, daß es sich um das allerbilligste Papier aus der Volksrepublik China handelte. Mitten auf der Seite stand in chinesischen Zeichen das einzelne Wort laogai. Darunter war auf Englisch zu lesen: Bitte vergiß Donnerstag nicht. Chan starrte den Zettel einen Augenblick lang an, dann warf er ihn in einen Abfallkorb, der zwischen den Aufzügen am Boden festgeschraubt war.
Solange er denken konnte, war Hongkong ein Magnet für die verschiedensten politischen Bewegungen gewesen. Das Bekenntnis der Briten zur Meinungsfreiheit bedeutete, daß praktisch jeder Fanatiker sich eine Druckerpresse kaufen und sich einer bestimmten Sache verschreiben konnte, obwohl der große Kampf um Herzen und Geist unweigerlich zwischen den lokalen Kommunisten und den Kuo Min Tang, den Verlierern des Bürgerkriegs, stattfand, die jetzt Taiwan kontrollierten. Er hatte jedoch auch schon Botschaften auf ähnlich schlechtem Papier von Adventisten des Siebten Tages, Buddhisten und einer Tierschützergruppe erhalten, die alternde Chinesen davon abbringen wollte, Rhinozeroshornpulver zu konsumieren, von Moslems aus dem südlichsten Zipfel der Philippinen, von Mitgliedern der Moon-Sekte sowie von jemandem, der
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