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Die letzten Worte des Wolfs

Die letzten Worte des Wolfs

Titel: Die letzten Worte des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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erklären und vermitteln können, wenn es nur gelungen wäre, sein leidensreiches Leben zu bewahren. Auch die vier Jäger hätte man aufhalten und befragen müssen, aber sowohl er als auch Eljazokad waren wie gelähmt gewesen in diesen eigenartigen Augenblicken. Um die von ihnen getöteten Wölfe tat es ihm ebenfalls leid, die schönen, großen Flechtenwölfe, von denen es womöglich auch nicht mehr allzu viele gab auf dem Kontinent. Eines Tages würde der Kreis vielleicht den Auftrag erteilen, die letzten Flechtenwölfe zu bewahren. Rodraeg sah bildlich vor sich, wie das Mammut dann sich selbst bekämpfte: die tötenden, pfeileverschießenden Mammutmänner gegen die schützenden, hilfreichen Mammutmänner. Was sollte man tun? Wie hätte man anders handeln können angesichts eines entführten Kindes und einer Mutter in Not? Rodraeg vermißte Naenn. Mit ihr hätte er tiefreichende Gespräche über diese Fragen führen können, ohne der grundlosen Selbstzerfleischung bezichtigt zu werden.
    Am Abend des 26. Wiesenmondes erreichten sie die altertümliche Stadt Tyrngan, die von den Klippen des Kjeer umwuchert war. Sie beschlossen, in einer Herberge zu übernachten, und kehrten im Kandelaber ein. In unmittelbarer Nähe dieses Gasthauses gab es eine Niederlassung von Slaarden Edolarde, in der Alins die Kutsche über Nacht generalüberholen lassen konnte. Rodraeg, der dank Dascos großzügiger Mitfahrtentgeltung hundertzehn Taler im Geldsäckel hatte, zahlte allen ein eigenes Zimmer und ein üppiges Mahl.
    Während Hellas sich in der Stadt mit vierzig neuen Pfeilen ausrüstete, suchten Bestar und Rodraeg vor dem Zubettgehen noch gemeinsam einen Heiler namens Nerass auf, den ihnen die Wirtin vom Kandelaber empfohlen hatte.
    Nerass – ein quirliger Glatzkopf in einem bodenlangen Gewand – besah sich Bestars Bauchwunde sehr genau und behandelte sie mit Salbe, aufgelegten Heilblättern und einem frischen, festen Verband. Für Rodraegs geprellten Arm hatte er eine kühlende Tinktur parat, die er mit einem seidigen Tuch aufstrich. Gegen Rodraegs Husten hatte er Pastillen, die in etwa denen von Samistien Breklaris entsprachen, aber so einfach wollte er Rodraeg dann doch nicht davonkommen lassen, nachdem er das Kjeerhemd begutachtet hatte.
    Â»Hier in den Kjeerklippen sind solche Hemden natürlich wohlbekannt«, sagte er mit seiner munteren, hohen Stimme. Rodraeg wurde der eigenartige Zufall, daß er sich mit einem Kjeerhemd ausgerüstet hatte, kurz bevor er das diesem Gott geweihte Gebirge durchqueren wollte, erst in diesem Augenblick bewußt. »Sie dienen Bergleuten, Alten und Kindern, die mit Atemschwierigkeiten zur Welt gekommen sind, dazu, Staub und Erdreich aus dem Wind zu binden und ein saubereres Luftholen zu ermöglichen.« Nerass legte ein Ohr an Rodraegs Brustkorb und klopfte mit dem Knöchel gegen mehrere Rippen. »Was ich aber in Euch zu hören glaube, ist nicht einfach eingeschlossener Staub oder eine schwächliche Lunge. Ihr habt etwas Klebriges in Euch, etwas Giftiges, das wie ein Tier mit vielen Beinen oder Tentakeln in Euren Atemwegen sitzt und sich möglicherweise ausbreitet. Von einer solchen Erkrankung habe ich erst einmal gehört. Damals hat man dem armen Kerl den Brustkorb geöffnet, um das Tier herauszuholen, und daran ist er dann gestorben.«
    Rodraeg fühlte sich müde. Jeder erzählte ihm, daß es schlecht um ihn stünde. Die Heilerin Geskara in Terrek, der Händler Breklaris in Warchaim, der Abt Kjabram, jetzt Nerass – und sogar der todgeweihte Dasco hatte Zeit gefunden, ihn als sterbenden Mann zu bezeichnen. Je öfter man ihm das unter die Nase rieb, desto ärgerlicher wurde er darüber. Er fühlte sich ganz in Ordnung, dank des Kjeerhemdes sogar besser als direkt in Terrek. Falls es wirklich schlimm um ihn stand, hatte er ohnehin keine Zeit, sich auszukurieren. Sämtliche Wale und Wölfe und Werwölfe des Kontinents schienen ihn zu suchen und zu brauchen.
    Â»Wie hat der arme Kerl von damals seine Krankheit denn bekommen?« fragte er, halb in Gedanken und nur halb zuhörend.
    Â»Kjeer selbst hat ihn geschlagen«, antwortete Nerass ungerührt. »Der Mann war ein Frevler, ein Götterlästerer. Also kam Kjeer zu ihm hin und füllte ihm Erde in den Brustkorb, bis ihm die Augen überflossen. Ihr seid nicht letztens einem Gott

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