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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Zieh Leine! Unter den leisen Klängen gregorianischen Gesangs folgten sie ihrem Gepäck durch einen grauen Tunnel vorüber an pastellfarben gestrichenen Türen. Ihr Schlafzimmer war grande luxe : das heißt, französisches Bett und steril wie ein Operationssaal. »Himmel!« platzte sie heraus und starrte mit wütender Feindseligkeit um sich. Der Hausdiener drehte sich erstaunt nach ihr um, doch sie ignorierte ihn. Sie entdeckte eine Schale Obst, einen Eiskübel, zwei Gläser und eine Flasche Wodka, die neben dem Bett standen. Eine Vase für die Orchideen. Sie stopfte sie hinein. Joseph gab dem Diener ein Trinkgeld, der Rollwagen quietschte zum Abschied, und plötzlich waren sie allein - mit einem Bett, so groß wie ein Fußballplatz, zwei gerahmten Kohlezeichnungen von minoischen Stieren, die die geschmackvolle erotische Atmosphäre lieferten, und einem Balkon mit verbautem Blick auf den Parkplatz. Charlie nahm die Wodka-Flasche aus dem Kühler, schenkte sich ein großes Glas ein und ließ sich auf den Bettrand fallen.
    »Prost, alter Junge«, sagte sie.
    Joseph stand noch und beobachtete sie ausdruckslos. »Prost, Charlie«, erwiderte er, obwohl er kein Glas hatte. »So, und was machen wir jetzt? Monopoly spielen? Oder ist dies die große Szene, für die wir uns Eintrittskarten gekauft haben?« Sie wurde lauter. »Ich mein’, wer zum Teufel sind wir denn hier? Nur zu meiner Information? Wer? Richtig? Nur wer?« »Du weißt sehr gut, wer wir sind, Charlie. Wir sind ein Liebespaar, das seine Hochzeitsreise in Griechenland genießt.« »Ich dachte, wir wären in einem Motel in Nottingham?«
    »Wir spielen beide Szenen gleichzeitig. Ich dachte, das wäre dir klar. Wir stellen die Vergangenheit und die Gegenwart her.« »Weil wir so wenig Zeit haben.« »Sagen wir: weil Menschenleben auf dem Spiel stehen.«
    Sie nahm noch einen Schluck Wodka, und ihre Hand zitterte nicht im geringsten; das tat ihre Hand nie, wenn die schwarze Stimmung sie packte. »Jüdische Menschenleben«, korrigierte sie ihn.
    »Gibt es da einen Unterschied zu anderen Menschenleben?« »Das würde ich aber verdammt noch mal doch sagen! Himmel! Ich meine, Kissinger kann die armen Scheiß-Kambodschaner bombardieren bis zum Gehtnichtmehr. Kein Mensch rührt einen Finger. Die Israelis können aus den Palästinensern Hackfleisch machen, sooft sie wollen. Wenn aber in Frankfurt oder sonst wo ein paar Rabbis hochgehen, dann ist das eine echte, erstklassige erlesene internationale Katastrophe, hab’ ich nicht recht?«
    Sie starrte an ihm vorbei auf irgendeinen imaginären Feind, doch aus den Augenwinkeln sah sie, dass er einen entschlossenen Schritt auf sie zu machte, und einen strahlenden Augenblick lang meinte sie tatsächlich, er werde ihr die Qual der Wahl endgültig abnehmen. Doch statt dessen ging er an ihr vorüber ans Fenster und machte die Balkontür auf, vielleicht, weil er das Dröhnen des Verkehrs brauchte, um ihre Stimme damit zu übertönen.
    »Katastrophen sind es alle«, erwiderte er ungerührt und blickte hinaus. »Frag mich, was die Bewohner von Kiryat Shmonah für Gefühle bewegen, wenn die palästinensischen Granaten runterkommen. Frag die Kibbuzim, wie ihnen beim Heulen der Katyusha-Raketen zumute ist - immer vierzig auf einmal -, wenn sie ihre Kinder in die Unterstände bringen und so tun, als wäre alles nur ein Spiel.« Er sprach nicht weiter und seufzte irgendwie gelangweilt, als hätte er seine eigenen Argumente schon hundertmal gehört.
    »Trotzdem«, fügte er dann in zweckmäßigem Ton hinzu, »wenn du das nächste mal mit diesem Argument kommst, solltest du meines Erachtens dabei bedenken, dass Kissinger Jude ist. Auch das hat einen Platz in Michels unterentwickeltem politischen Vokabular.«
    Sie presste die Knöchel in den Mund und entdeckte, dass sie weinte. Er kam zu ihr und setzte sich neben sie aufs Bett, und sie wartete darauf, dass er den Arm um sie legte und ihr etwas vernünftigere Argumente lieferte oder sie einfach nahm, was ihr am liebsten gewesen wäre. Doch er tat nichts dergleichen. Er war willens, sie ihrer Trauer zu überlassen, bis sie sich nach und nach einbildete, dass er irgendwie mit ihr gleichziehe und sie jetzt gemeinsam trauerten. Mehr als alle Worte schien sein Schweigen dem, was sie tun mussten, etwas an Schärfe zu nehmen. Eine Ewigkeit blieben sie so Seite an Seite, bis sie ihr Schluchzen in einem tiefen, erschöpften Seufzer ausklingen ließ. Doch selbst dann bewegte er sich noch nicht - nicht auf

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