Die Libelle
sie zu, nicht von ihr weg.
»Jose«, flüsterte sie verloren und nahm noch einmal seine Hand. »Wer, zum Teufel, bist du? Was fühlst du in all diesen verwirrten Stacheldrahtknäueln?«
Sie hob den Kopf und horchte auf die Geräusche von anderen Leben in den angrenzenden Räumen. Das quengelige Gegreine eines Kindes, das nicht einschlafen konnte. Ein schriller Ehestreit. Sie hörte Schritte vom Balkon und blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, dass Rachel, mit einem Trainingsanzug aus Frottee, mit Schwammbeutel und Thermosflasche bewaffnet, über die Schwelle in das Zimmer trat.
Wach und zu erschöpft, um Schlaf zu finden, lag sie da. So wie dies war Nottingham nie. Von nebenan hörte man, wie gedämpft telefoniert wurde, und sie meinte, seine Stimme zu erkennen. Sie lag in Michels Armen. Sie lag in Josephs Armen. Sie sehnte sich nach Al. Sie war in Nottingham mit der Liebe ihres Lebens, war sicher in ihrem eigenen Bett, daheim in Camden, war in dem Zimmer, das ihre Scheiß-Mutter immer noch Kinderzimmer nannte. Sie lag da, wie sie als Kind dagelegen hatte, nachdem ihr Pferd sie abgeworfen hatte, verfolgte den Film ihres Lebens und erforschte ihren Geist, so wie sie vorsichtig ihren Körper erforscht, jedes Teil einzeln abgetastet und nach irgendwelchen Schäden gesucht hatte. Meilenweit von ihr entfernt, auf der anderen Seite des Bettes, lag Rachel und las im Schein einer winzigen Lampe eine Taschenbuchausgabe von Thomas Hardy.
»Wen hat er eigentlich, Rachel?« sagte sie. »Wer stopft ihm die Socken und macht ihm seine Pfeifen sauber?« »Warum fragst du ihn nicht selbst, meine Liebe?«
»Du etwa?«
»Das würde nicht klappen, meinst du nicht auch? Jedenfalls nicht für länger.« Charlie döste, versuchte aber immer noch dahinter zu kommen, wer er eigentlich sei. »Er war ein Kämpfer«, sagte sie.
»Der beste«, sagte Rachel voller Genugtuung. »Ist es immer noch.«
»Und wie hat er sich dann seine Kämpfe ausgesucht?«
»Man hat sie für ihn ausgesucht, nicht wahr?« sagte Rachel, immer noch in ihr Buch versunken.
Charlie versuchte einen Vorstoß: »Er hat ja wohl mal eine Frau gehabt. Was ist mir ihr geschehen?« »Tut mir leid, meine Liebe«, sagte Rachel.
»›Ist sie von selbst abgesprungen, oder hat jemand nachgeholfen?‹ fragt man sich unwillkürlich«, grübelte Charlie, ohne sich durch die Abfuhr irritieren zu lassen. »Ich kann mir schon vorstellen, dass man so weit kommt. Die Ärmste, sie musste ja an die sechs Chamäleons auf einmal sein, bloß um eine Busfahrt mit ihm zu machen.« Eine Zeitlang lag sie still da.
»Wie kommt es denn, dass du dich auf diese Sache eingelassen hast, Rachel?« fragte sie, und zu ihrer Überraschung legte sich Rachel das Buch auf den Bauch und erzählte es ihr. Ihre Eltern seien orthodoxe Juden aus Pommern, sagte sie. Nach dem Krieg hätten sie sich in Macclesfield niedergelassen und wären in der Textilbranche reich geworden. »Filialen auf dem Kontinent und ein Penthouse in Jerusalem«, sagte sie unbeeindruckt. Ihr Wunsch sei es gewesen, dass Rachel nach Oxford ging und dann in das Familienunternehmen eintrat, doch habe sie lieber die Bibel und jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität studiert.
»Es ist einfach passiert«, erwiderte sie, als Charlie nicht lockerließ und sie nach dem nächsten Schritt fragte.
Aber wie? Charlie ließ sich damit nicht abspeisen. Warum? »Wer hat dich ausgesucht, Rachel, und was sagen sie dann?« Rachel sagte ihr nicht, wie oder wer, wohl aber, warum. Sie kenne Europa und sie kenne den Antisemitismus, sagte sie. Und außerdem habe sie diesen überheblichen kleinen Sabra-Kriegshelden an der Universität zeigen wollen, dass sie genauso gut für Israel kämpfen könne wie irgendein junger Mann.
»Und was ist mit Rose?« fragte Charlie auf gut Glück. Bei Rose sei das kompliziert, entgegnete Rachel, als ob das bei ihr nicht der Fall wäre. Rose sei in Südafrika bei der Zionistischen Jugend gewesen, nach Israel gekommen und habe dann nicht gewusst, ob sie nicht doch hätte bleiben und gegen die Apartheid kämpfen sollen. »Sie strengt sich noch mehr an als andere, weil sie nicht weiß, was sie eigentlich tun soll«, erklärte Rachel und wandte sich dann mit einer Entschlossenheit, die jede weitere Diskussion ausschloss, wieder ihrem Bürgermeister von Casterbridge zu.
Ideale im Überfluss, dachte Charlie. Noch vor zwei Tagen hatte ich keine. Sie überlegte, ob sie denn jetzt welche hätte. Frag mich
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