Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
morgen früh. Eine Zeitlang schwelgte sie schläfrig in Schlagzeilen: BERÜHMTE PHANTASTIN BEGEGNET WIRKLICHKEIT.- JOHANNA VON ORLEANS VERBRENNT PALÄSTINENSISCHEN AKTIVISTEN. - Gut, Charlie, ja, gute Nacht.
    Beckers Zimmer lag ein paar Schritte weiter den Korridor hinunter und hatte zwei Einzelbetten, das war das Äußerste, womit das Hotel bereit war, anzuerkennen, dass jemand allein war. Er lag auf einem Bett und starrte auf das andere, das Telefon auf einem Tischchen dazwischen. In zehn Minuten war es halb zwei, und halb zwei war der Zeitpunkt. Der Nachtportier hatte sein Trinkgeld eingesteckt und versprochen, den Anruf durchzustellen. Er war hellwach, wie oft um diese Stunde. Zu klarsichtig, um zu denken, und zu langsam, um wieder herunterzukommen. Alles präsent zu haben und zu vergessen, was dahinter steckt. Oder was nicht. Das Telefon klingelte auf die Minute genau, und sofort begrüßte ihn Kurtz’ Stimme. Wo ist er? fragte sich Becker. Er hörte im Hintergrund Musik vom Band und schloss richtig auf ein Hotel. Deutschland, fiel ihm ein. Ein Hotel in Deutschland spricht mit einem Hotel in Delphi. Kurtz sprach englisch, weil das weniger verdächtig war, und er sprach betont nachlässig, damit ein Mithörer, was zwar nicht wahrscheinlich war, aber möglich, nicht plötzlich aufhorchte. Ja, alles sei in Ordnung, versicherte ihm Becker; das Geschäft mache sich gut, er sähe im Augenblick keinerlei Fallstricke. Was ist mit dem jüngsten Erzeugnis? fragte er.
    »Das mit der Zusammenarbeit klappt ganz ausgezeichnet«, versicherte Kurtz ihm in dem übertriebenen Ton, mit dem er seine weit verstreuten Truppen aufmunterte. »Gehen Sie nur zum Lager, sobald Sie wollen, Sie werden von dem Produkt bestimmt nicht enttäuscht sein. Und noch was.«
    Becker führte in der Regel seine Telefongespräche mit Kurtz nicht zu Ende, und Kurtz auch nicht mit ihm. Es war schon eine sonderbare Sache zwischen ihnen, dass beide miteinander wetteiferten, der erste zu sein, der den anderen los wurde. Diesmal jedoch hörte Kurtz ihn bis zu Ende an und Becker Kurtz. Doch als er den Hörer auflegte, erblickte Becker seine attraktiven Züge im Spiegel und starrte sie voller Abscheu an. Einen Augenblick lang erschienen sie ihm voller falscher Versprechungen, und er hatte den morbiden und überwältigenden Wunsch, sie für immer auszulöschen: Wer, zum Teufel, bist du?... Was fühlst du? Er ging näher an den Spiegel heran. Ich habe das Gefühl, als betrachtete ich einen toten Freund und hoffte, er würde wieder lebendig. Ich habe das Gefühl , als hielte ich - ohne Erfolg - in einem anderen nach meinen alten Hoffnungen Ausschau. Ich habe das Gefühl , als wäre ich - wie du - Schauspieler und umgäbe mich mit anderen Formen meiner Identität, weil mir das Original unterwegs irgendwie abhanden gekommen ist. Aber in Wahrheit fühle ich gar nichts, denn echtes Gefühl ist zerstörerisch und widerspricht der militärischen Zucht. Deshalb fühle ich nicht, sondern ich kämpfe, und ergo bin ich. Er ging ungeduldig durch die Stadt, mit weit ausholenden Schritten, und hatte unbewegt vor sich hin gesehen, als ob Gehen ihn langweilte und die Entfernung wie immer zu kurz sei. Es war eine Stadt, die auf einen Angriff wartete, und er hatte im Laufe von zwanzig oder mehr Jahren zu viele Städte in diesem Zustand erlebt. Die Menschen waren von den Straßen geflüchtet; kein Kind war zu hören. Legt die Häuser in Schutt und Asche. Schießt auf alles, was sich bewegt. Von ihren Besitzern verlassen, standen die Ausflugsbusse und Autos da, und Gott allein wusste, wann sie sie wiedersehen würden. Gelegentlich glitt sein Blick rasch in eine offene Toreinfahrt oder den Eingang zu einer unbeleuchteten Gasse, aber immer auf der Hut zu sein, war ihm zur zweiten Natur geworden, und er verlangsamte den Schritt nicht. Als er zu einer Seitenstraße kam, hob er den Kopf, um den Namen zu lesen, lief aber auch hier rasch weiter, ehe er eilends in einen Bauplatz einbog. Zwischen den hoch aufgeschichteten Backsteinhaufen war ein bunt bemalter Kleinbus abgestellt. Daneben standen schief die Pfähle einer Wäscheleine, mit der zehn Meter Antennendraht getarnt worden waren. Die Tür ging auf, ein Pistolenlauf richtete sich auf sein Gesicht, als ob ein Auge ihn scharf anblickte, verschwand dann. Eine respektvolle Stimme sagte »Schalom!« Er stieg ein und schloss die Tür hinter sich. Die Musik übertönte das unregelmäßige Geratter des kleinen Fernschreibers nicht ganz.

Weitere Kostenlose Bücher