Die Libelle
kennen zu lernen. Er hat ausdrücklich dich verlangt. Weißt du, was er einem Freund von uns mal gesagt hat? ›Ohne Frauen würde ich meine menschliche Wärme verlieren und als Soldat versagen. Wer ein guter Soldat sein will, braucht vor allem Menschlichkeit.‹ Vielleicht kannst du dir vorstellen, was für ein großer Mann er ist. Du hast Michel geliebt, deshalb wird er dich lieben. Das ist überhaupt keine Frage. So.«
Helga gab ihr noch einen letzten, ein wenig längeren Kuss und verließ den Raum, und Charlie legte sich auf den Rücken und verfolgte mit weit geöffneten Augen, wie die späte Nacht langsam im Fenster heller wurde. Sie hörte, dass der klagende Schrei einer Frau zu einem flehentlichen, unterdrückten Schluchzen wurde; dann den drängenden Ruf eines Mannes. Helga und Mario trieben die Revolution ohne ihren Beistand weiter. Folge ihnen, wohin sie dich auch führen , hatte Joseph gesagt. Und wenn sie dir befehlen, jemand umzubringen, bring jemand um. Dafür sind wir verantwortlich, nicht du.
Wo wirst du sein?
Nahe.
In der Handtasche hatte sie eine Mickey-Maus-Taschenlampe mit einem winzigen Lichtstrahl, jene Art von Taschenlampe, mit der sie im Internat unter der Bettdecke gespielt hätte.
Zusammen mit Rachels Päckchen Marlboro nahm sie sie heraus. Es waren noch drei Zigaretten übrig, die sie lose wieder zurücksteckte. Vorsichtig, wie Joseph es ihr beigebracht hatte, entfernte sie das Zellophanpapier, riss die Pappe der Schachtel auf und breitete sie flach aus, die Innenseite nach oben. Dann feuchtete sie den Finger an und verrieb sacht den Speichel auf der leeren Pappe. Die Buchstaben wurden in Braun sichtbar, fein gestrichelt wie mit einer Zeichenfeder. Sie las die Botschaft und stopfte das flach zusammengelegte Päckchen in eine Spalte zwischen den Bodendielen, bis sie verschwand und nichts mehr davon zu sehen war.
Mut! Wir sind bei dir! Das ganze Vaterunser auf einem Stecknadelkopf.
Ihre Einsatzzentrale im Freiburger Stadtzentrum war ein Hals über Kopf angemietetes Büro zu ebener Erde in einer lebhaften Hauptstraße, ihre Tarnung die Walker & Frosch Investment Company GmbH, eine der Dutzende von Firmen, die Gavrons Sekretariat ständig eingetragen hielt. Ihre Kommunikationsausrüstung sah mehr oder weniger so aus wie kommerzielle Software; außerdem hatten sie dank Alexis’ Entgegenkommen drei normale Telefone, von denen eines, das am wenigsten offizielle, den direkten Draht des Doktors zu Kurtz darstellte. Es war früher Morgen nach einer aufregenden Nacht, die sie zunächst mit der heiklen Aufgabe verbracht hatten, Charlie aufzuspüren und das Haus zu überwachen; hinterher hatte es noch eine heftig geführte Auseinandersetzung zwischen Litvak und seinem westdeutschen Gegenstück darüber gegeben, wo man sich gegeneinander abgrenzte, denn Litvak geriet mittlerweile mit jedem in Streit. Kurtz und Alexis hatten sich klüglich aus diesem Geplänkel zwischen Untergebenen herausgehalten. Die allgemeine Übereinkunft erwies sich als tragfähig, und Kurtz hatte noch kein Interesse, es zu brechen. Sollten Alexis und seine Leute ruhig den Ruhm einheimsen; Litvak und die seinen würden sich mit der Genugtuung begnügen.
Was Gadi Becker betraf, so war er wieder im Krieg. Da es nun jeden Augenblick losgehen konnte, hatte sein Verhalten etwas gebändigt und entschlossen Behendes. Die Selbstprüfungen, die ihn in Jerusalem heimgesucht hatten, waren gewichen; die nagende Ungewissheit des Wartens war vorbei. Während Kurtz unter einer Armeewolldecke döste und Litvak nervös und völlig erschöpft auf und ab tigerte oder kryptisch in das eine oder andere Telefon sprach und sich in eine unbeschreibliche Laune hineinsteigerte, stand Becker an den Jalousien des breiten Fensters Wache und schaute geduldig hinauf zu den schneeverhüllten Bergen auf der anderen Seite der olivgrünen Dreisam. Denn genauso wie Salzburg, ist auch Freiburg eine von Bergen umringte Stadt, in der jede Straße zu ihrem eigenen Jerusalem hinaufzuführen scheint.
»Sie ist in Panik«, verkündete Litvak Beckers Rücken plötzlich.
Verwirrt drehte Becker sich um und sah ihn an.
»Sie ist zu ihnen übergegangen«, behauptete Litvak. Seine Stimme hatte etwas kehlig Unsicheres.
Becker wandte sich wieder dem Fenster zu. »Ein Teil von ihr ist zu ihnen übergegangen, ein anderer Teil ist bei uns geblieben«, erwiderte er. »Genau darum haben wir sie ja gebeten.«
»Sie ist zu ihnen übergegangen«, wiederholte Litvak und
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