Die Libelle
den man nie wieder vergisst.‹ Sie mussten mit ansehen, wie sämtliche Fetische der Konsumgesellschaft - hübsche Möbel - hübsche Kleider - sämtliche Attribute bürgerlicher Wohlanständigkeit -praktisch vor Ihren Augen auseinander genommen und weggeschafft wurden. Sie ganz allein. Mussten damit fertig werden. Den Haushalt auflösen. Waren unbestritten diejenige, die die Angelegenheit Ihrer rührend bourgeoisen Eltern in die Hand nahm, die von Rechts wegen der Arbeiterklasse hätten angehören sollen, aber so bedenkenlos waren, es nicht zu tun. Die sie tröstete. Die ihnen half, ihre Schande zu ertragen. Ich nehme an, es war, als ob Sie ihnen die Absolution erteilten. Verdammt schwer«, setzte er traurig hinzu. »Wahrhaftig kein Kinderspiel.« Er hielt inne, wartete darauf, dass sie etwas sagte.
Doch das tat sie nicht. Sie hielt schweigend seinem Blick stand. Sie konnte gar nicht anders. Seine tief eingekerbten Gesichtszüge verhärteten sich, besonders um die Augen herum, auf merkwürdige Weise. Trotzdem hielt sie seinem Blick stand, auf ganz besondere Art; sie hatte, noch aus der Kindheit, eine Art, ihr Gesicht gleichsam zu einem eisigen Bild erstarren zu lassen und dabei anderen Gedanken nachzuhängen. Und gewann, wusste, dass sie Siegerin blieb, denn es war Kurtz, der als erster wieder das Wort ergriff, und das war der Beweis. »Charlie, wir sind uns darüber im klaren, dass dies alles sehr schmerzlich für Sie ist; trotzdem bitten wir Sie, mit Ihren eigenen Worten fortzufahren. Da ist also der Möbelwagen. Wir sehen, dass Ihre Sachen aus dem Haus herausgeschafft werden. Was sehen wir noch?«
»Mein Pony.«
»Haben sie das auch mitgenommen?« »Hab’ ich Ihnen doch schon gesagt.« »Zusammen mit den Möbeln? Im selben Möbelwagen?« »Nein, in einem anderen Laster. Seien Sie doch nicht albern.«
»Es waren also zwei Autos da. Beide zur selben Zeit? Oder einer nach dem anderen.«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Wo hielt sich Ihr Vater denn während dieser ganzen Zeit auf? Im Arbeitszimmer? Stand er am Fenster, und sah er nach, wie alles verschwand? Wie hält ein Mann sich - wenn die Schande so über ihn hereinbricht?«
»Er war im Garten.«
»Und tat dort was?«
»Er betrachtete die Rosen. Starrte sie an. Und wiederholte immer wieder, die dürfen sie nicht wegbringen. Was auch geschähe. Immer und immer wieder hat er das gesagt: ›Wenn sie meine Rosen mitnehmen, bring’ ich mich um.‹ «
»Und Ihre Mutter,«
»Mum war in der Küche und kochte. An was anderes konnte sie nicht denken.«
»Gas- oder Elektroherd?«
»Elektroherd.«
»Ja, habe ich mich da verhört? Hatten Sie nicht gesagt, das Elektrizitätswerk hätte den Strom abgestellt?« »Sie hatten ihn wieder angeschlossen.« »Und den Herd haben sie nicht abmontiert und mitgenommen?«
»Den mussten sie dalassen. Es gibt da eine gesetzliche Vorschrift: den Herd, einen Tisch und einen Stuhl für jeden, der im Haus wohnt.«
»Und Messer und Gabel?«
»Ein Besteck für jede Person.«
»Warum haben sie denn nicht einfach das Haus beschlagnahmt? Und Sie alle auf die Straße gesetzt?«
»Weil es auf Mutters Namen eingetragen war. Darauf hatte sie schon verjähren bestanden - dass das gemacht wurde.«
»Kluge Frau. Immerhin passierte das Ganze in Ihrem Elternhaus. Und wo, sagten Sie, hatte Ihre Internatsleiterin vom Bankrott Ihres Vaters gelesen?«
Fast hätte sie die Frage nicht mitbekommen. Für einen Moment verschwammen die Bilder vor ihrem geistigen Auge, doch dann nahmen sie wieder feste Umrisse an und lieferten ihr die Wörter, die sie brauchte: ihre Mutter mit fliederfarbenem Kopftuch über den Herd gebeugt, hektisch dabei, Arme Ritter zuzubereiten, ein Lieblingsgericht der Familie. Ihr Vater, in einem doppelreihigen Blazer, wie er grau im Gesicht und wortlos die Rosen betrachtete. Die Internatsleiterin, die Hände auf dem Rücken, wie sie ihren in Tweed gehüllten Körper vor dem nicht angezündeten Kamin in ihrem beeindruckenden Wohnzimmer wärmte. »In der London Gazette «, erwiderte Charlie stumpf. »Wo über alle Pleiten berichtet wird.«
»Hatte die Anstaltsleiterin die Gazette abonniert?«
»Vermutlich.«
Kurtz nickte ausdauernd und bedächtig, nahm dann einen Bleistift und schrieb das eine Wort vermutlich auf einen vor ihm liegenden Block, und zwar so, dass Charlie es lesen konnte. »So, und nach dem Bankrott kamen dann die Anklagen wegen Betrug. Richtig so? Wollen Sie uns nicht von der Verhandlung berichten?« »Ich habe
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