Die Libelle
ihn so, dass Charlie nichts erkennen konnte.
»Ja, zu den Eltern«, sagte sie und griff mutig nach einer Zigarette. Kurtz ließ sich nicht zur Eile antreiben und studierte bestimmte Unterlagen, die Litvak ihm in die Hand gedrückt hatte. »Kehren wir zur Schlussphase im Leben ihres Vaters zurück, sein Zusammenbruch, die finanzielle Schande, sein Tod und so weiter. Können Sie uns noch einmal genau sagen, in welcher Reihenfolge sich das alles abspielte? Sie besuchten ein englisches Internat. Die schreckliche Nachricht kam. Von da an weiter, bitte.« Sie begriff nicht ganz, was er wollte. »Von wo an?«
»Die Nachricht trifft ein. Von da an weiter.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich wurde rausgeschmissen, fuhr nach Haus, dort wimmelte es von Gerichtsvollziehern; wie Ratten. Aber das hatten wir doch schon alles, Marty. Was soll denn noch sein?«
»Die Internatsleiterin ließ Sie kommen, haben Sie gesagt«, erinnerte Kurtz sie nach einer Pause. »Schön. Was hat sie also gesagt? Den genauen Wortlaut, bitte?«
»›Tut mir leid, aber ich habe die Hausmutter angewiesen, Ihre Sachen zu packen. Wiedersehn und viel Glück!‹ Soweit ich mich erinnere.«
»Ach, daran erinnern Sie sich?« sagte Kurtz mit trockenem Humor, lehnte sich vor und warf nochmals einen Blick in Litvaks Papiere. »Keine Moralpredigt von ihr über die Verderbtheit der bösen Welt draußen?« fragte er immer noch lesend. »Kein ›Wirf dich nicht zu leicht weg‹ oder so? Nein? Keinerlei Erklärung, wieso und warum, als man Sie aufforderte zu gehen?«
»Das Schulgeld war ja schon seit zwei Semestern nicht mehr bezahlt worden - ist das nicht Grund genug? Für sie war das schließlich ein Geschäft, Marty. Sie mussten an ihr Bankkonto denken. Es war eine Privatschule, vergessen Sie das nicht.« Sie ließ durchblicken, dass sie müde sei. »Meinen Sie nicht, wir sollten’s für heute genug sein lassen? Ich weiß auch nicht, wieso, aber ich komme mir ziemlich gerädert vor.«
»Oh, das nehme ich Ihnen nicht ab. Sie sind ausgeruht, und Sie haben Reserven. Sie sind also nach Hause. Mit der Bahn?« »Bis nach Hause per Bahn. Und ganz allein. Mit meinem Köfferchen. Auf dem Nachhause-Weg.« Sie streckte sich und sah sich lächelnd im Raum um, doch Joseph hatte den Kopf abgewandt. Er schien einer anderen Musik zuzuhören.
»Sie sind also nach Hause und haben dort was genau vorgefunden?«
»Das totale Chaos, wie ich Ihnen schon sagte.«
»Könnten Sie dieses Chaos bitte ein bisschen genauer beschreiben?«
»Möbelwagen auf der Auffahrt. Männer in Schürzen. Mutter in Tränen aufgelöst. Mein halbes Zimmer schon ausgeräumt.«
»Und wo war Heidi?«
»Jedenfalls nicht da. Nicht vorhanden. Zählte nicht zu denen, die dabei waren.«
»Und keiner hat nach ihr geschickt? Ihre ältere Schwester, der Augapfel Ihres Vaters? Die nur zwanzig Kilometer entfernt wohnte? Warum ist denn Heidi nicht gekommen, um zu helfen?«
»Wahrscheinlich, weil sie schwanger war«, erklärte Charlie sorglos und betrachtete wieder ihre Hände. »Das ist sie normalerweise immer.«
Aber Kurtz blickte Charlie an und nahm sich eine Menge Zeit, ehe er überhaupt etwas sagte. »Wer, haben Sie gesagt, war bitte schwanger?« fragte er, als ob er nicht gehört hätte.
»Heidi.«
»Charlie, Heidi war nicht schwanger. Zu Heidis erster Schwangerschaft kam es erst im Jahr darauf.«
»Ja, gut, dann war sie eben mal nicht schwanger.«
»Warum ist sie also nicht gekommen, um der Familie ein bisschen zur Hand zu gehen?«
»Vielleicht wollte sie es nicht wissen. Sie kam jedenfalls nicht, das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Marty, um Himmels willen, die ganze Sache ist schließlich zehn Jahre her. Ich war noch ein Kind, ein ganz anderer Mensch.« »Wegen der Schande, was? Heidi konnte die Schande nicht ertragen. Die des Bankrotts Ihres Vaters, meine ich.« »Was für eine Schande soll es denn sonst gegeben haben?« gab sie schnippisch zurück.
Kurtz fasste ihre Frage rhetorisch auf. Er beschäftigte sich wieder mit seinen Papieren, sah, dass Litvaks langer Finger auf etwas zeigte. »Jedenfalls ließ Heidi sich nicht blicken, und die ganze Verantwortung, mit der Familienkrise fertig zu werden, lastete auf Ihren jungen Schultern, stimmt’s? Die eben sechzehnjährige Charlie, aufgerufen, die Retterin zu spielen. Ihr Intensivkurs über die Anfälligkeit des kapitalistischen Systems, wie Sie es vor noch nicht langer Zeit mal so hübsch ausgedrückt haben. ›Ein Anschauungsunterricht,
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