Die Lichtermagd
verleugnen. Doch sich als Jüdin auszugeben, war mit Sicherheit keine Sünde in den Augen von Jesus. Es war immerhin sein eigenes Volk, auch wenn es seit Jahrhunderten im Exil lebte, weil es ihn selbst verleugnete.
Luzinde wusste, wie das Leben als Heimatlose war. Nicht dorthin zurückkehren zu können, wo man sich zu Hause fühlte, nirgendwo sicher vor Armut und Verfolgung zu sein … das war ein hartes Los.
Zögernd griff sie zu einer dünnen Kerze und gedachte Gottschalks. War es richtig gewesen, ihm nach Prag zu folgen? Oder hätte sie in Nürnberg für ihr Kind da sein sollen? Sie war eine Rabenmutter, so viel stand fest. Sie verachtete sich für die Schwäche, die sie in jener Nacht überkommen hatte. Hätte sie damals, in diesem kurzen Augenblick, mehr gekämpft; hätte sie ihrem Vater verständlich machen können, dass sie es behalten wollte … Sie verdrängte den Gedanken.
Dann zündete Luzinde die Kerze an und bat den heiligen Bartholomäus um Fürsprache. »Wenn’s sich irgendwie machen lässt«, murmelte sie mit schwerem Herzen, »dann bitte auch für den Juden um einen Platz im Reich Gottes.« Dann bekreuzigte sie sich ein letztes Mal und trat den Heimweg an.
Wie sie gehofft hatte, war der Aufruhr in ihrem Herzen dank des Gebets ein wenig beruhigt worden. Ihre Gedanken klärten sich. Sie wusste noch immer nicht, was sie tun, wohin sie sich wenden sollte. Doch nun hatte sie das Vertrauen, dass sie schon eine Lösung finden würde. Ihr war bereits zwei Mal ein Neuanfang
gelungen.Warum also nicht ein drittes Mal? Doch jetzt würde sie sich ausruhen und neue Kräfte sammeln. Die letzten Tage und Wochen voll Aufregung und Sorgen hatten an ihr gezehrt. Dann würde sie entscheiden, wie es weiterging.
Also schlich Luzinde sich auf dem Weg, den sie gekommen war, wieder in Levis Haus zurück. Sie schloss das Gartentor leise und schob den Riegel wieder so vor, wie sie ihn vorgefunden hatte. Als sie sich durch die Büsche schob, hörte sie vom Tor ein leises Rumpeln und verharrte geduckt. Sie hielt den Atem an, um in die Dunkelheit zu lauschen.War noch jemand des Nachts unterwegs? Oder war ihr gar jemand gefolgt? Dieser Gedanke ließ ihr Herz rasen.
Als sie es in der Hocke nicht mehr länger aushielt, schob sie sich wieder in eine stehende Position. Nichts regte sich. Doch sie wollte kein Risiko eingehen. Sie ließ mindestens den vierten Teil einer Stunde verstreichen, in dem sie nur auf ihren Atem und die Stille der Nacht lauschte. Dann schlich sie sich über den Hof auf die Außentreppe und über die Galerie zurück ins Haus.
Hier angekommen, schob Luzinde die Tür hinter sich ins Schloss und atmete erleichtert auf. Sie streifte ihr braunes Überkleid und den Mantel ab, hängte es zum Trocknen nahe der Kohleschale über einen Hocker und schlüpfte dann zwischen die Decken ihres Lagers. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich ihre Aufregung gelegt hatte und die Füße halbwegs warm geworden waren. Schließlich gelang es ihr, die Augen zu schlie ßen und in einen Dämmerschlaf hinüberzugleiten.
»Jungfer Luzinde!« Es pochte hart an der Tür. »Jungfer Luzinde! Aufgestanden!«
Luzinde schlug die Augen auf und starrte ins Dunkel.Wo war sie? Was ging hier vor? An der Tür klopfte es wieder, und langsam kehrte die Erinnerung an das Haus des Levi und ihren
nächtlichen Betgang zurück. Nur das Glühen der Kohlen in der Schale spendete einen Hauch Licht. Am Zustand der Kohlen konnte sie abmessen, dass wohl kaum eine Stunde vergangen sein mochte, seit sie sich zum Schlafen niedergelegt hatte. Und die Stimme des Mannes vor ihrer Tür musste die von Seligmann sein.
»Ich komme«, murmelte sie schlaftrunken. Sie hatte den Eindruck, gerade erst eingeschlafen zu sein. Das machte sie müder denn je. Doch sie sprenkelte sich ein wenig Wasser aus der Schale auf dem Tisch ins Gesicht und wischte es sich schnell mit einem Leinentuch ab, denn die Kälte setzte ihr zu. Dann wickelte sie sich in eine Decke und öffnete.
»Was gibt’s, Seligmann?«, fragte sie. Vor ihr stand ein Mann mit einer Laterne in der Hand, doch es war nicht Seligmann. Es war der gedrungene Levi. Der drückte nun die Tür auf und betrat ihre Kammer. Der schielende Knecht folgte ihm auf dem Fuß und grinste schief, während er die Tür hinter ihnen wieder schloss.
»Herr Levi«, stammelte die Magd. »Was kann ich Euch … was wünscht Ihr denn mitten in der Nacht?«
Der alte Hausherr drehte sich um und musterte Luzinde ernst. »Des sag du mir,
Weitere Kostenlose Bücher