Die Lichtermagd
wie ein irres Pferd.
»Nein«, erwiderte sie leise. Sie wollte allein sein. Der Knecht starrte sie mit einem Auge an, mit dem anderen glotzte er schräg an ihr vorbei.Trotzdem sah Luzinde, dass sich Misstrauen darin abzeichnete. Vielleicht sah der Mann ja besser, als man dachte. Ahnte er etwas? Hatte sie sich bei Tisch verraten?
»Soll ich de Lichter anschtecken?«, fragte Seligmann und wies auf die Kerzen auf dem Fenstersims. »Zum Beten?«
»Nein«, sagte Luzinde. »Du kannst gehen.« Sie wollte den Burschen nur los sein – er war ihr unheimlich.
Die Magd legte sich ins Bett, obwohl die Stunde noch früh war. Der Verlust von Gottschalk lastete schwer auf ihr, ohne dass sie das Gefühl richtig greifen konnte. Doch es machte ihr das Schlafen schwer.Wie sollte es nun mit ihr weitergehen? Sie fühlte sich ausgesetzt in einer Fremde, die mehr umfasste als nur ihre örtliche Unkenntnis. Sie wusste nicht, wie lange sie die Juden hier würde glauben lassen können, dass sie eine der
Ihren war. Hier konnte sie nicht bleiben. Doch wohin? Zurück nach Nürnberg, in das Haus von Mose und Rebekka, die sie beide nur geduldet hatten, weil Gottschalk es wollte? Oder nach Pillenreuth? Oder voran nach Prag, zwei Tage allein durch Böhmen? Dort kannte sie auch niemanden.
Luzinde weinte in ihr Kissen, denn sie fühlte sich schutzlos – und schuldig. Hatte sie mit ihren Lügen, ja mit der Verleugnung ihres Glaubens das Unglück über Gottschalk gebracht? Sie hatte doch bloß nicht mehr ertragen, wie der alte Mann sich behandeln ließ.War es gerecht, dass das gleich mit seinem Tod hatte enden müssen? Sie wusste es nicht. Das Bedürfnis nach einem Gebet, nach einer echten christlichen Messe, wurde so dringlich, dass es sie beinahe körperlich schmerzte. Sie wollte Abbitte leisten für die Sünden, die sie auf sich geladen hatte. Endlich stand sie auf. Es war schon spät. Und sie wusste, dass es eine Dummheit war. Doch sie musste zur Kirche gehen.
Zum zweiten Mal auf dieser Reise legte Luzinde ihren Schleier mit der blauen Borte beiseite und zog ihr altes braunes Überkleid aus der Tasche. Es duftete nach Erde und Stall. Sie breitete es auf dem Lager aus und starrte es an. Beinahe eine Ewigkeit schien vergangen, seit sie Gottschalks Haus betreten hatte. Erst jetzt, da sie auf ihr Leben zurückblickte, erkannte sie, wie viel sie dem Toten zu verdanken hatte. Er hatte ihr eine Hand gereicht, als sie es am nötigsten gebraucht hatte. Er hatte sie beschützt und ihr neuen Mut gegeben. Damals hatte ein neuer Abschnitt ihres Lebens begonnen. Die Schreiberstochter aus Lindelberg und selbst die Magd aus Pillenreuth kamen ihr heute wie Fremde vor.
Als sie das an eine klösterliche Frauentracht erinnernde Gewand über ihr Unterkleid zog, kam sie sich nun umgekehrt vor, als würde sie sich verkleiden. Doch in dem Judengewand wollte sie nicht in die Kirche gehen. Luzinde band sich das
Kopftuch um, das sie neben dem Schutz gegen Kälte und Regen auch vor neugierigen Augen bewahren würde. Sie streifte sich Gottschalks schweren Umhang über, der bei ihrem Gepäck lag, denn die Nacht würde kalt sein.
Dann trat Luzinde aus der Kammer auf die Balustrade, die in den Hof hinauswies, huschte leise die Stufen hinab und stahl sich über den Innenhof, auf dem sich Unterstände für Karren undVieh befanden. Doch sie trat nicht durch das Hoftor hinaus, sondern folgte einem Pfad durch Gebüsch und Gestrüpp zu einer vergitterten Hinterpforte des Eckgrundstücks. Entgegen aller Befürchtungen quietschte die Tür nicht, als sie den Riegel aufschob und sie langsam öffnete, um sich hinauszuschieben.
Der feine kalte Regen überzog Pflanzen und Wege und füllte die Pfützen der sandigen Straßen langsam wieder. Trotzdem hing der herbe Duft von Maische in der Luft. Die Glockentürme hatten Mitternacht noch nicht verkündet. Luzinde fühlte sich schrecklich verwundbar, als sie schnell den Weg zu dem riesigen Marktplatz hinunterhastete, um zu der Kirche zu gelangen, die sie am Abend gesehen hatte.
Auch von nahem wirkte das Bauwerk gedrungen und schlicht, mit vier hoch aufragenden Fenstern in den Seiten. Auf den zweiten Blick stellte Luzinde fest, dass die Kirche noch lange nicht fertiggestellt oder bereits wieder im Umbau befindlich war – zwei Seiten waren von hölzernen Baugerüsten umgeben, Holz- und Steinlager standen in der Nähe. Auch der Kirchturm ragte nur halb auf, doch daran wurde zurzeit nicht gebaut. Als die Magd die Tür im Nordportal aufschob,
Weitere Kostenlose Bücher