Die Lichtermagd
wenn er sie fand. Erschöpft stand sie auf, reckte ihren kalten, steifen Leib und hob die Sachen auf. Als sie sich wieder aufrichtete, da streckte ihr jemand eine Münze entgegen. Erstaunt musterte sie den Kerl.
Der Mann, der die Münze hielt, war alt. Er trug einen gestutzten weißen Bart, der an den Schläfen ausuferte, und kurzes, ebenfalls schlohweißes dünnes Haar, das teilweise von einer
Mütze bedeckt war. Seine weite Kotte wirkte sauber und gepflegt; fremdartige Silberstickereien darauf waren ein Zeichen für Wohlstand. Trotz des Alters von sicher über sechzig Jahren und knorpeligen Gichtfingern strahlten die grauen Augen sie wach und freundlich an. Er lächelte Luzinde aufmunternd zu und hielt ihr weiter die Münze aus lauterem Silber entgegen.
Die Magd zögerte. Das Doppelkreuz auf der Münze bewies, dass es sich um einen Groschen handelte – und der war immerhin zwölf ganze Pfennige wert! Sie forschte in den Augen des Mannes nach Spuren, ob es sich um einen Scherz handelte, oder der Alte etwa Hintergedanken mit der Gabe verband. Doch der klare Blick blieb freundlich und offen. Also streckte Luzinde die Hand aus und griff nach der Münze. Dieses Stück Silber würde ihr sicherlich über etliche Tage helfen, wenn sie nur Brot und Käse kaufte und das Essen gut einteilte. Der Mann machte mit dieser einfachen Gabe die Sorgen um ihre Zukunft erträglicher. »Ich werde für Euch beten«, sprach sie warm. »Gott wird es Euch vergelten.«
»Na, das würd mich aber wundern«, warf der Krämer ein, der zum Pissen hinter die Bude gekommen war. Er spie auf den Boden. »Das ist ein Jud, der will die Gebete aufrechter Christenleute nicht, Mädchen!«
Erstaunt musterte Luzinde den Alten genauer. Sie hatte sich die Gottesmörder immer mit spitzem Hut vorgestellt, denn so mussten sie sich kenntlich machen. Doch wenn der Mann eine Jude war, dann wollte er mit dem Geld nicht ihre Gebete erkaufen, da hatte der Krämer Recht. Was erhoffte er sich dann? Wollte er sie sich verpflichten? Sie hatte schlimme Geschichten gehört, was Juden mit Christen und Christenkindern taten.
Zwei weitere Handwerker steckten die Köpfe auf den Ruf
hin neugierig hinter die Buden. Plötzlich schien das kleine heimliche Eckchen, das Luzinde sich gesucht hatte, Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. Sie errötete.
»Ich kann das nicht nehmen«, sagte sie laut und reichte dem Mann die Münze zurück. »Nicht von dir.«
Der Alte zog eine buschige weiße Braue hoch. Doch er nahm den Groschen wieder an und steckte ihn in seine lederne Börse zurück, die mit ihren rot gefärbten Rosenpunzierungen allein sicher mehr wert war als das Geld, das er ihr geboten hatte. Er machte schon Anstalten, sich umzuwenden, doch er hielt noch einmal inne. »Ich dacht nur«, murmelte er dann mit leiser Stimme, »de kennst’s brauchen.«
»Aber du bist ein Jude«, erwiderte sie.
»Und?«
»Na – und ich bin’s nicht.« Damit war alles gesagt, fand die Magd.
»De willst mein Geld also nit?«, fragte der alte Mann. Die grauen Augen beobachteten sie milde.
Luzinde zögerte. Der Hunger nagte in ihren Eingeweiden, und sie wollte den Groschen gerne nehmen. Doch dies war sicher eine Prüfung Gottes. Gott würde sie nicht im Stich lassen, wenn sie der Versuchung widerstand. Also schüttelte sie den Kopf.
»Dann werd ich’s behalten«, murmelte der Alte. »Ich dacht es helft meglicherweis.« Damit drehte er sich um und ließ sie stehen, um unbeholfen die steile Straße hinunterzugehen.
»Gut gemacht«, nickte der Krämer mit dem braunen Bart anerkennend. Sein oberschenkellanges grünes Gewand war von einem kupfernen Ziergürtel gehalten, die weichen Lederstiefel gingen ihm bis über das Knie. Der Mann stellte einen bescheidenen Wohlstand zur Schau. Er gab ihr einen Pfennig. »Wer weiß, was in deren Köpfen vorgeht …«
»Ja, wer weiß. Es wohnen viele Juden in der Stadt, nicht wahr?«
»Oh ja!« Der Krämer runzelte die Stirn. »Sie breiten sich aus wie der Schwarze Tod.« Er bekreuzigte sich. »Sie sind des Königs Kammerknechte und keinem Landesherren untertan. Daher führen sie sich auf, als gehörte die Stadt ihnen. Na, die besten Häuser haben sie schon«, er nickte die Straße hinunter, die sich vom Rathaus der Stadt bis zur Fleischbrücke erstreckte. »Da unten sind vom Rathaus bis zur Brücke alles Judenhäuser. Und im Osten bis zum Zotenberg.Alles rund um die Judenschule, die sie sich vor fünfzig Jahren haben bauen dürfen.« Dann wies er mit dem
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