Die Liebe am Nachmittag
Und die Luft steht förmlich, doch dann plötzlich, einen Augenblick später, beginnen vom Ahorn, von den Birken, den Eschen und Ulmen die Blätter zu fallen, so als rüttelten Kinder nach dem Regen an den Bäumen und ließen die Tropfen herabrieseln.
Es gibt auch Augenblicke, in denen die Blätter ringsum, so weit das Auge reicht, ohne wahrnehmbare Luftbewegung lautlos vom stillen Holz niederfallen. Es muss wohl irgendeine Absprache unter den Bäumen geben und auch mit dem Sonnenschein, der alle tausend und abertausend Blätter im Fallen badet; ein Ballett, das Himmel und Erde zum gegenseitigen Ruhm inszenieren. Vielleicht ist ja diese gesegnete herbstliche Stunde einziger Zweck der Schöpfung gewesen.
Ich bin nur noch Auge und Atem. Als wäre ich zur Seele mutiert. Vergesse fünf, ja zehn Minuten lang, mich zu rühren. Gehe auf in der Stille, die mich umgibt, in dem Odem, den ich atme.
Es gibt die Frühlingsstille und die Winterstille, auch eine nächtliche Stille. Diese sonnendurchtränkte herbstliche Nachmittagsstille, wenn die Blätter fallen, sie ist die Stille des Träumens, des Glücks.
Wenn es einen Gott gibt, der nicht nur in uns wohnt, einenaußerhalb unseres Raumes, dann ist die Herbststille dieser Gott, der Gott der Schöpfung, der Wunder, der Unendlichkeit und der Unfassbarkeit.
Diese Stille ist tiefer als tiefgehende Musik, diese Minuten sind so abgrundtief, so schwer und leicht, ich weiß es nicht, sie kommen nicht aus der Zeitrechnung und auch nicht aus der Zeitmaterie wie die Jahreszeiten und andere Minuten des Lebens.
Diese Stille ist wie ein friedliches Gehege, in das die Herde der Gedanken heimgekehrt ist, diese Stille lächelt wie die Liebe der geschlossenen Augen, diese Stille ist so unerschöpflich wie der Duft, wenn ich meine Nase in eine Rose stecke, süß ist diese Stille wie das Meer, das nicht salzig, sondern süß ist.
In dieser strahlenden herbstlichen Stille des Blätterfallens habe ich gelernt, auch ohne Glück glücklich zu sein.
Und in ebendieser Stille kungelte ich auch mit dem Tod, weil das alles doch so leicht ist, schau nur dieses Blatt! Und alles so unbedeutend, das Ganze nichts weiter als ein Gedanke, nur ein Traum, bloße Schönheit und Poesie.
Ich glaube, ich könnte wie die Trappisten stumm durchs Leben gehen, wenn nur immer diese Stille herrschte.
Auch die Singdrossel scheint nur dieser Stille zuliebe im Oktober zu verstummen.
Sie liebt es auch, zu Fuß zu laufen, alle Vögel mögen das, so wie wir Menschen gern fliegen möchten. Der behäbige, herumzigeunernde Vogel rennt wie eine kleine Ratte unter den Strauch, bemerke ich ihn, schrecke ich zusammen. Immer wieder bleibt er auf der Wiese stehen, dreht das Köpfchen zur Seite und schaut; rennt zu einem abgefallenen Eichenblatt, wendet es mit dem Schnabel um, pickt ständig daran und stößt es im Gras vor sich her. Auch Spatzen spielen gern mit Blättern, picken in die Blattränder, tanzen mit dem Blatt, lassen es über den Rasen gleiten. Ich habe einen Spatz beobachtet,der mit einem Blatt hochflog und versuchte, es an dem Ast wieder festzustecken.
Meine Schritte auf dem Gras sind geräuschlos; mit einem erhebenden Gefühl schlendere ich über den Rasen. Ein Blatt segelt mir auf die Schulter, ich bin überrascht: ich lebe, bin leibhaftig, ich hatte es schon vergessen. Bücke mich nach einem verblichenen Schmetterling, mit zusammengefalteten Flügeln liegt er zu meinen Füßen, auf der Seite. Als mimte er ein gefallenes Blatt. Und ich bücke mich nach den glänzenden, bronzefarbenen Eichenblättern, makellosen schwefelgelben Birkenblättern, stecke sie mir in die Tasche, um sie mit nach Hause zu nehmen. Ich fühle mich so wohl im Herbst! Im Frühling, wenn es warm wird, bin ich immer müde. Am häufigsten plagen mich Selbstmordgedanken im Frühling. Im Herbst lebe ich auf, bin gern auf der Welt. Spüre die kühle Wärme wie ein Seidenhemd auf der Haut. Wie eine gute Fee schaut die herbstliche Sonne auf mich herab.
Bis zur Abenddämmerung verweile ich auf einer Bank oder schlendere auf den Spazierwegen der Insel umher; komme nicht einmal auf die Idee, meine Gedanken zu verwerten, lasse sie vorüberziehen wie die Wolken am Himmel; möchte nur fühlen; eine Sehnsucht vibriert in mir wie die, von der Chopin an Marie d’Agoult schrieb: »Nicht Musiker sein, sondern selbst zu Musik werden, nicht Musik darbieten, sondern in sie eintauchen, aufgehen in der Musik, in ihr zerfließen; auch ich empfinde bis zur
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