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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Anderen hervorruft: »Was ist los mit dir?« Die Liebenden können sich auseinander leben in diesen Zeiten, und wenn sie die Erfahrung nicht schon etliche Male hinter sich gebracht haben und gelassen darauf antworten können, bleibt es auch dabei. Ungern rechnen sie die gegensätzlichen Erfahrungen dem Liebesglück zu, eher suchen sie angesichts solcher Schwierigkeiten das Weite, um bei nächster Gelegenheit doch wieder damit konfrontiert zu sein; ein Problem insbesondere der romantischen Liebe.
    Demgegenüber bemüht die atmende Liebe sich um Toleranz für die gegensätzlichen Phasen, ebenso für die Phasenverschiebungen zwischen den Liebenden, die sich nicht in jedem Moment in der gleichen Phase befinden. Die Toleranz fällt leichter mit der Einsicht in den Sinn der Gegensätze, der darin liegen kann, das jeweils Andere besser zur Geltung zu bringen: Ausgerechnet der Ärger kann die Freude, der Schmerz die Lust intensivieren. Hilfreich wäre, die Abfolge der Phasen als ähnlich sinnvoll wahrzunehmen wie eine Abfolge von Saunagängen: Immer wieder müssen die Liebenden durch schweißtreibende Hitzen hindurch und ins kalte Wasser springen, bevor sich ein nachhaltiges Wohlgefühl einstellen kann. Aber selbst die Zufriedenheit, die darauf folgt, kann nicht von Dauer sein, und auch das hat Sinn, denn die Gefahr wäre groß, im ewigen Frieden, den zwei miteinander machen, dieBeziehung einzuschläfern. Eine Liebesbeziehung lebt nicht nur von der Zufriedenheit, sondern auch von der gelegentlichen Unzufriedenheit, die Anlass gibt, die Beziehung neu zu überdenken und fällige Veränderungen anzugehen. Letztlich ist eine Beziehung eben keine Wellnessveranstaltung, sondern eine immer neue Herausforderung; gefährdet ist sie gerade dann, wenn die Beteiligten Wohlgefühl und Zufriedenheit auf Dauer stellen wollen (Jürg Willi, Psychologie der Liebe , 2002).
    Angesichts dessen ist eine unerfüllte Liebe nicht etwa nur die einseitige Liebe, sondern auch die Liebe, die einseitig nur »das Positive« zu realisieren versucht und an anderen Seiten und Zeiten scheitert. Eine erfüllte Liebe hingegen wird möglich, wenn mit dem Anderen die Fülle des Lebens in aller Polarität und auf allen Ebenen des Menschseins gelebt werden kann: Mit Sinnlichkeit und ihrem gelegentlichen Ausbleiben, mit guten und weniger guten Gefühlen, mit reichem Gedankenaustausch und Auseinandersetzungen mit Worten, die einem hinterher leidtun. Die Fülle wird größer mit neuen Aspekten am eigenen Selbst und am Anderen, die gerade in schwierigen Zeiten zum Vorschein kommen, wenn willentlich oder notgedrungen andere Fähigkeiten als die bekannten zu entdecken und zu entfalten sind. Erfüllend ist die Fülle der gemeinsamen Geschichte, die gemeinsame Entwicklung und Reifung durch die verschiedensten Schwierigkeiten hindurch (Jürg Willi, Ko-Evolution , 1985). Erfüllend wirkt das Bewusstsein epochaler Verbundenheit über den Genuss des episodischen Wohlfühlglücks hinaus, und je länger zwei gemeinsam durchs Leben gehen, desto intensiver erfahren sie dieses Glück und durchbrechen das scheinbare Naturgesetz, dass die Liebe mit den Jahren schwinden muss: In Wahrheit kann sie mit den Jahren wachsen. Erfüllt fühlen sich die Liebenden, wenn keine Lücke,keine Leere in ihnen bleibt, vielmehr sehr vieles in der Beziehung ausgereizt und ausgeschöpft werden kann, wenngleich nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen können. Fülle ergibt sich, wenn es möglich ist, den Anderen zu bejahen, wenn auch nicht ausnahmslos, und sich von ihm grundsätzlich bejaht zu fühlen, durch alle Irritationen hindurch. Das Glück der Fülle resultiert letztlich daraus, zum Erfülltsein des Anderen beizutragen: »Ich bin glücklich, wenn du glücklich bist.«
    Der umfassenden Erfahrung von Fülle entspricht jedoch das Ausmaß an empfundener Leere, wenn die Liebe entbehrt werden muss. Das Unglücklichsein in der Liebe kann Teil des Glücks der Fülle sein, wenn es einem zeitweilig widerfährt, vielleicht sogar dann, wenn der Zustand anhält, vorausgesetzt, dass er nicht dazu führt, »todunglücklich« zu sein. Gründe fürs Unglücklichsein sind nicht nur Verletzungen und Enttäuschungen, sondern auch der Schmerz über die Grenzen des Glücks , der Liebe und des Lebens. Das kann auch ohne Anlass, »einfach nur so« geschehen, ein scheinbar grundloses Traurigsein, etwa weil nach einer Zeit positiver Erfahrungen der Gegenpol wieder einmal touchiert werden muss. Das Menschsein besteht nicht

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