Die Liebe atmen lassen
nur aus Glücklichsein, selbst in der glücklichsten Beziehung kann ein Mensch ein Bedürfnis nach Unglücklichsein verspüren, aus Gründen des Kontrastes oder um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, die vor allem beim Wohlfühlglück schwindet: Je länger das Gefühl schwebender Leichtigkeit anhält, desto spürbarer wird die Sehnsucht nach der Wiederkehr der Schwerkraft, und Melancholie stellt sich ein, ein Bedrücktsein, das die Schwere wieder erfahrbar macht. Nicht jede Melancholie ist das Anzeichen einer Krankheit namens Depression , bei der ein Mensch kaum noch die Kraft zu einem Gefühl oder Gedanken hat und medizinischer undtherapeutischer Betreuung bedarf. In der Melancholie hingegen sind die Gefühle und Gedanken überaus bewegt, in Gesprächen wird eine abgründige Tiefe des Denkens und Fühlens offenbar, die das oberflächlich gelebte alltägliche Leben konterkariert. Erst dann, wenn unklar ist, ob und wann die Melancholie wieder endet, stellt sich die Frage: Kann ich ein Leben mit ihr einrichten, mit welcher Anstrengung? Ist auch der Andere dazu bereit? Und was ist, wenn nicht?
Alle Glücke der Liebe kennt Giacomo Casanova, sie begleiten seine amouröse Existenz , die endlose Serie seiner Amouren, die er der singulären Liebe vorzieht. In der Geschichte meines Lebens erzählt er, wie er immer von Neuem das unwahrscheinliche Zufallsglück einer Begegnung erlebt, etwa 1749 in einer norditalienischen Herberge mit der Französisch sprechenden Henriette: Für paradiesische drei Monate genießt er mit ihr ein unerhörtes Wohlfühlglück der Liebe, bis er ins äußerste Unglücklichsein stürzt, als sie, deren Herkunft ihm unbekannt bleibt, in einer Kutsche am Horizont entschwindet, für immer. Blickt er zurück auf die extremen Gegensätze des Lebens und der Liebe, die er durchlebt hat, wird ihm das Glück der Fülle zuteil, das alle positiven und negativen Erfahrungen umschließt ( Lydia Flem, Casanova oder Die Einübung ins Glück , 1995). Dieses Glück wird, bei aller Wehmut über die Vergänglichkeit, grundiert von einer Heiterkeit , die keine bloße Fröhlichkeit ist, sondern ein basso continuo der Verbundenheit mit dem gesamten Leben. Eine Gelassenheit geht daraus hervor, die vom Lassen ihren Namen hat: Etwas lassen zu können statt es haben zu müssen; vieles geschehen, wachsen und vergehen zu lassen statt darüber bestimmen zu wollen, manches Anderen zu überlassen und sich von ihnen prägen zu lassen.
Die heitere Gelassenheit ist ein stilles Glück , das nichtvieler Worte bedarf. Im Humor der wahrhaft Liebenden kommt es am besten zum Ausdruck: Kann es eine Beziehung ohne Humor, eine humorlose Liebe überhaupt geben? Im Humor scheint eine dauerhafte Freude auf, die von leidvollen Erfahrungen nicht in Frage gestellt wird; anders als der Spaß, der zwar gesucht und gefunden werden kann, aber auch grundlos ausbleibt, ist die Freude weniger von Launen abhängig. Aber niemand sollte von der Heiterkeit des Humors auf die Abwesenheit von Gegensätzen und Widersprüchen im humorvollen Menschen und in seinem Leben schließen: Der Humor dient vielmehr dazu, sie zu überbrücken, und je heiterer der Humor, desto größer die Schwierigkeiten, die er zu bewältigen hat. Humor ist human, dem humorvollen Menschen liegt Nachsicht nahe, er wirft sich und Anderen, dem Leben, der Welt und Gott die allgegenwärtigen Gegensätze und Widersprüche nicht unentwegt vor. Auf dem Humus des Humors kann vieles gedeihen, und von diesem Boden aus wird auch der distanzierte Blick möglich, der bei aller Gegensätzlichkeit das Gemeinsame wieder sieht. Zugleich kann Humor die Polarität des Lebens für sich selbst nicht aufheben: Humorlose, freudlose Zeiten gilt es weiterhin zu überstehen. Von anhaltender Humorlosigkeit aber werden nicht selten die extremen Formen der Liebe befallen: Ihre Übersteigerung zur todernsten Leidenschaft und ihre Entleerung zur bloßen Parallelexistenz zweier Menschen.
Das mehrfache Glück der Liebe mündet schließlich in die Erfahrung der Fülle des Sinns . Das Leben mag angefüllt und zugemüllt sein mit sinnlosen Dingen, erfüllt und ausgefüllt aber kann es nur mit Sinn sein, mit all dem, was der jeweilige Mensch als sinnvoll erfährt, und wo Sinn ist, da ist auch Glück. Liebe ist nicht die einzig mögliche Methode, Sinn zufinden und zu erfinden, aber eine der wirksamsten; aufgrund der vielfältigen Zusammenhänge, die sie aufspürt und herstellt, wird sie in der Epoche der Frage nach Sinn zur
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