Die Liebe atmen lassen
Entgrenzung ihrer Ichs, bis sie sich bloßgestellt fühlen und ihre Ich-Grenzen mit Schamgefühlen neu errichten. Hin- und hergerissen sind sie, manchmal in ein und demselben Moment, zwischender Sehnsucht nach Geborgenheit und dem Verlangen nach Freiheit, fühlen sich hingezogen zum Anderen und wollen sich zurückziehen auf sich, empfinden Erfüllung und dann wieder Enttäuschung.
Auch durch die Zeiten hindurch springen die Gefühle von einem Pol zum anderen, fluten hin und her zwischen Leidenschaft und Gleichgültigkeit, Liebe und Flaute, Zufriedenheit und Unzufriedenheit, Selbstsicherheit und Unsicherheit, Vertrauen und Ängstlichkeit, Zärtlichkeit und Zorn, Versöhnung und Empörung, Großzügigkeit und Eifersucht, Euphorie und Tristesse (einen Versuch, die Gegensätze zu katalogisieren, unternimmt Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe , 1977). Nur ausnahmsweise kennt die Logik der Gefühle eine friedliche Ausgeglichenheit, regelmäßig sorgen Gegensätze im Einzelnen und in seinem Beziehungsleben für Turbulenzen. Je mehr eine Seite hervortritt, desto mehr beansprucht die Gegenseite Geltung, dem Gesetz der Polarität folgend, bis die anhaltend extremen Ausschläge womöglich zu einer bipolaren Störung führen, die nach Therapie verlangt, um die Amplituden der Gefühle besser auf das Fassungsvermögen des Einzelnen abzustimmen. Der Wellengang von Hochs und Tiefs im Meer der Energien eines Menschen, in seinem Gefühlsleben und auch in jedem einzelnen Gefühl selbst geht mit Schwankungen des Hormonspiegels einher, denen die Regelmäßigkeit von Ebbe und Flut eigen ist.
Das romantische Projekt, mit der Betonung von Gefühlen ein Gegengewicht zur Fühllosigkeit der Moderne zu schaffen, hat auch ihre problematischen Eigenheiten stärker hervortreten lassen: Ungewisse Wahrheit, große Wankelmütigkeit, durchschlagende Macht. Das zeigt sich deutlich beim Problem des Wünschens , das Gefühle aufwerfen: »Wahre Gefühle«sollen es sein, aber die Frage nach ihrer Wahrheit ist kaum zu beantworten. Wahr erscheinen sie, wenn in ihrer Ausdrucksform Energie »mitschwingt«, statt nur leeres, kaltes Gehäuse zu sein; aber von Bedeutung dafür ist der subjektive Eindruck im Moment, für den es an objektiven Maßstäben fehlt und der keine Gewähr für alle Zeiten bietet. Gewünscht werden auch »gute Gefühle«, die möglichst ewig dauern sollen, aber wenn das misslingt, »dann war’s das«. Zu höchster Intensität sollen die guten Gefühle gesteigert werden, um füreinander zu glühen, aber die Liebenden werden rasch irre an den heftigen Schwankungen dieser Glut: Niemand erfährt das heftiger als die Romantiker selbst, denen schon das alltägliche Auf und Ab ihrer Stimmungen sehr zu schaffen macht. Hochstimmung herrscht, wenn das jeweilige Selbst mit dem Anderen und aller Welt zusammenstimmt, bedrückte Stimmung, wenn nicht: »O! dass ich sowenig in der Höhe bleiben kann« (Novalis, Über die Liebe , Sammelband, 2001, 44).
Die einzige Kontinuität im Gefühlsleben ist das Auf und Ab der Intensität , bei dem auf jedes Aufwallen der Energie, das als lustvoll empfunden wird, ein Abflauen antwortet, das Unlust oder gar Schmerz verursacht. Selbst das verhaltene, dafür anhaltende Gefühl der Zuneigung in windstillen Zeiten kennt unterschiedliche Pegelstände, erst recht die Leidenschaft in stürmischen Zeiten, die augenblicklich aufschäumt, bevor sie wieder abebbt. Höchst erstrebenswert erscheint das »ozeanische Gefühl«, in dem zwei aufgehen wollen, das Ganz-dein-Sein, nach dem sie sich sehnen, und das sie, einmal erreicht, nie mehr vergessen: Sie wollen »vor Glück / Nicht ans Ufer zurück« (Herman van Veen, Weißt du, wie es war , Lied, 1973). Es erscheint wie eine Überlagerung zweier Wellen im weiten Ozean der Energie, wobei sich aber, ähnlich wie im wirklichenMeer, Monsterwellen auftürmen können, die die Ichs der Liebenden unter sich begraben: Auf die Erfahrung der ekstatischen Verschmelzung folgt das Erschrecken darüber, sich »völlig verloren« zu haben, schließlich der Rückzug voneinander, um sich wieder zu finden, vielleicht mit dem ausdrücklichen oder verschwiegenen Vorwurf an den je Anderen, die Seele des Selbst zu sehr für sich in Anspruch genommen zu haben.
Auch Gefühle werfen ein Problem der Macht auf: Jedes einzelne tendiert dazu, den Seelenraum für sich allein zu beanspruchen und andere Gefühle zu verdrängen. Wenig wankelmütig zeigen sich dabei Gefühle wie Wut und Hass,
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