Die Liebe atmen lassen
deren Machtanspruch die größten Probleme verursacht, allerdings auch die größten Veränderungen erzwingt. Das denkende Selbst greift seinerseits in das Machtspiel ein, sowohl mit der Unterdrückung als auch mit der Befreiung von Gefühlen; in beiden Fällen folgt es dabei oft nur machtvollen kulturellen Vorgaben: Die Norm der Unterdrückung , die die Zurückhaltung und Leugnung von Gefühlen verlangte, ist im Laufe der Moderne abgelöst worden von der Norm der Befreiung , die dazu anhielt, Gefühle »zu zeigen«, sie »zuzulassen«, wann, wo und wie auch immer, bis sie sich nicht mehr damit begnügten, schöne und zuweilen weniger schöne Schaumkronen der anrollenden Wogen eines Meers an Lebensenergie zu sein, sondern alleinige Herrschaft über das Leben reklamierten. Seither sind willige Untertanen bereit, den Imperativen ihrer Gefühle Gefolgschaft zu leisten, am willigsten bei der Gründung und Aufkündigung von Beziehungen: Aufbrechende und ausbleibende Gefühle reichen dafür jeweils völlig aus.
Am stärksten wirkt sich das Problem der Macht bei leidenschaftlichen Gefühlen aus, also jener gesteigertenenergetischen Bewegung, auf die die romantische Liebe setzt, die aber nicht nur freudige Hingabe ermöglicht, sondern auch leidvolle Hinnahme abverlangt: Daher die doppeldeutige Rede von der »Liebe als Passion – es ist unsre europäische Spezialität« (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse , 260; Niklas Luhmann, Liebe. Eine Übung , 2008). In der Euphorie der Befreiung wurden lange die Leiden vernachlässigt, die eine allzu beliebige Freisetzung von Gefühlen verursachen kann; wohl der ursprüngliche Grund für die Norm der Zurückhaltung: Allzu häufig führen befreite Gefühle, die der Selbstachtung förderlich sein können, zur Missachtung Anderer, die mit den Folgen der Befreiung zurechtkommen müssen; eine tyrannische Form der Machtausübung, die zu mäßigen Aufgabe einer Ethik der Liebe ist.
Nach der Befreiung der Gefühle besteht diese Aufgabe in einer Formgebung der Freiheit , einer Grenzziehung, die der Einzelne für sich selbst vornimmt, um nicht mehr nur vorgegebenen Normen zu folgen. Eine Kunst des Fühlens wird damit zum Element der seelischen Kunst des Liebens, zu verwirklichen mithilfe einer Asketik, einer Einübung von Verhaltensweisen, die ein Hin- und Hergehen zwischen dem sentimentalen Überschwang ( Exaltation ) und der unsentimentalen Auslassung ( Elision ) von Gefühlen ermöglichen, zwischen ihrer intensiven Wahrnehmung und Äußerung und dem zumindest zeitweiligen Verzicht darauf. Wahrnehmung und Äußerung, verbal oder nonverbal, können ein therapeutisches Anliegen sein, um die Erschöpfung eines Gefühls zu befördern, sodass die von ihm beanspruchte Energie wieder frei wird und anderswo neu aufwallen kann: Der Zorn, der abgemüht wird, macht der Zärtlichkeit Platz, umgekehrt gibt das zärtliche Leben, das sich erschöpft, zornigen Einsprengseln Raum, dennauch die Zärtlichkeit ist »kein permanenter Zustand« (Ton Lemaire, Die Zärtlichkeit , 1975, 12).
Der kunstvolle Umgang mit Gefühlen besteht darin, sie zwischen Überschwang und Auslassung, Äußerung und Verinnerlichung atmen zu lassen , ihren Gegensätzen und Machtansprüchen Raum zu geben, ohne sie ruinös werden zu lassen. Gefühle zu zeigen muss nicht heißen, sie beliebig freizulassen; sie zurückzuhalten muss nicht darauf hinauslaufen, sie völlig zu unterdrücken. Für die Atmung kommt es darauf an, eine Muschelkompetenz der Seele auszubilden, damit diese sich zur rechten Zeit öffnen und wieder verschließen kann: Mit der Öffnung wird sie erreichbar, aber auch verletzbar; mit dem Verschließen schottet sie sich ab und schützt sich vor Verletzung – die Weite, die sie im Austausch mit ihrer Umwelt gewinnen kann, findet sie dann am ehesten im inneren Reich der Phantasie, auf die Gefahr hin, jedes Gefühl für die äußere Wirklichkeit zu verlieren. In einem lange währenden Prozess der Erfahrung und Besinnung entwickelt die Einzelseele ein Gespür dafür, was in welcher Situation angemessen ist, wann, wo und wie ein Mangel oder Übermaß an Offenheit oder Verschlossenheit wieder auszugleichen ist.
Die Freisetzung oder Begrenzung von Gefühlen geschieht gewöhnlich impulsiv , hier aber vorsätzlich mithilfe von körperlicher, seelischer, geistiger und womöglich transzendenter Berührung. Berührung macht Gefühle , die Verweigerung von Berührung lässt sie erkalten, in anderen Fällen erst recht
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