Die Liebe atmen lassen
handelt es sich dennoch um unterschiedliche Ausprägungen: Gefühle verschwimmen im Un- und Unterbewussten und wirken unwillkürlich auf Gedanken ein, Gedanken können Gefühle bewusstmachen und willentlich aufsie einwirken. Anders als Gefühle sind Gedanken in der Lage, sich von einer momentanen Erfahrung zu lösen und eine Situation wie von außen zu betrachten, um sie im selben Moment, im Nachhinein oder im Voraus zu durchdenken. Mit gedanklichen Vorstellungen von einer Wirklichkeit kann das Ich sich bemühen, wirkliche Zusammenhänge zu verstehen und sich mit Anderen in Worten und Begriffen darüber zu verständigen, auch Möglichkeiten sich vorzustellen, um womöglich Veränderungen ins Werk zu setzen. Diese Reflexivität wird von Selbstreflexivität ergänzt, der eigentlichen Eigenart des Menschseins: In Gedanken sich über sich selbst klarer zu werden. Letztlich kann damit die Energie, die dem Denken zugrunde liegt, sich ihrer selbst bewusst werden, sich denken, deuten und auf sich selbst einwirken, um sich zu verändern.
Das eröffnet der Liebe eine dritte Ebene: So wie es im Körperlichen darum geht, Liebe zu machen, im Seelischen, sie zu fühlen, so im Geistigen darum, Liebe zu denken und zu deuten . Diese Ebene ist kein Muss, sondern eine Möglichkeit, von der die Liebenden Gebrauch machen können, wenn sie ihr Bedeutung zumessen, abhängig von ihrer natürlichen Veranlagung, kulturellen Prägung und den eigenen Ideen des Einzelnen. Sollte der Aufwand an Zeit und Kraft für diese Ebene zu groß erscheinen, ist sie auch verzichtbar. Sollte das nur einer so sehen, der Andere aber anders, ist eine grundlegende Wahl für oder gegen die Beziehung zu treffen. Die Ebene der geistigen Zuwendung und Zuneigung kann auch eigens betont werden und sich selbst genügen, oder sie kann mit anderen Ebenen vermengt werden, wie James Joyce dies tut, der von der »geistigen Liebe« zu seiner Geliebten schwärmt und ihr gefühlvolle Gedichte widmet, während ihn zugleich ein »wildes tierisches Verlangen« nach ihr umtreibt ( Briefe an Nora , 2. Dezember1909). Der intensive Austausch zwischen den Liebenden auf geistiger Ebene bietet die Möglichkeit, sich wechselseitig gedanklich zu umfangen und bei sich zu wissen, gemeinsam zu denken, für den Anderen mitzudenken, auch gegen ihn anzudenken und ihn auf jede Weise gedanklich zu berühren. »Alle geistige Berührung gleicht der Berührung eines Zauberstabs« (Novalis, Über die Liebe , Sammelband, 2001, 57).
Als wechselseitige Zuwendung und Zuneigung in Gedanken, die durch alle körperlichen und seelischen Veränderungen hindurch erhalten bleibt, kann die Liebe von weit größerer Beständigkeit sein als das momentane Aufflammen der Sinnlichkeit und die Wankelmütigkeit der Gefühle. Die willentliche Zuwendung zum Anderen ist eben etwas Anderes als das willenlose Überwältigtsein von einer Leidenschaft. Im Geistigen kann die Liebe dauerhaft sein, mit großen Gefühlen und auch ohne. Auch dann kann die Liebe noch fortdauern, wenn die Körper welk werden und die Gefühle nicht mehr überquellen vor Leidenschaft, solange zumindest einer noch über die geistige Kraft verfügt, an der Zuwendung und Zuneigung festzuhalten. Platon hatte gute Gründe dafür, dieser Ebene des Eros in seinem Symposion eine privilegierte Stellung zuzuweisen. Sie allein ermöglicht, was viel später auch Shakespeare der Liebe abverlangt: Kein »Narr der Zeit« zu sein ( Love’s not Time’s fool , 116. Sonett).
Wird dieser Ebene Bedeutung zuerkannt, kann die Beziehung selbst reflektiert, interpretiert und immer wieder neu orientiert werden, vor allem dann, wenn Ratlosigkeit, Enttäuschung und Verzweiflung überhand nehmen. Die geistige Ebene wird zur Metaebene der Liebe , die mit der Distanz zur unmittelbaren Erfahrung im Körperlichen und Seelischen den Fragen Raum gibt: Was geschieht mit uns? Wollen wir wirklichdorthin, wohin äußere Notwendigkeit, innere Zwänge und gegensätzliche Bedürfnisse uns treiben? Gibt es noch etwas Anderes als die Forderungen des Körpers und seiner Sinnlichkeit, das Durcheinander der Seele und ihrer Gefühle? Anders als in nichtmodernen Kulturen, in denen die Verlaufsform einer Beziehung von Tradition, Konvention und Religion vorgezeichnet ist, stellen sich in moderner und andersmoderner Kultur stets von Neuem diese Fragen der Orientierung, denn in den Veränderungen, zu denen die Umwelt drängt, bleiben die Liebenden nicht dieselben, ihre Beziehung ebenso wenig: Zur
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