Die Liebe atmen lassen
Gleichzeitigkeit des Begehrens und seiner Befriedigung, die sich anfänglich wie von selbst ergab, immer häufiger verfehlt wird: »Ich bin müde.« »Immer bist Du müde!« Die großzügige Regelung des Immer und überall , die den Liebenden im Zustand des Verliebtseins so selbstverständlich erschien, beansprucht nun allenfalls noch einer, der Andere verweigert sie. Einer hält die Frage noch für wichtig, der Andere nicht; beide folgen ihrer inneren Notwendigkeit, dem Drängen des Begehrens oder dem Umstand, keines mehr in sich zu verspüren. Ausgerechnet das Schlafzimmer wird zum Schlachtfeld der Beziehung; umkämpft ist die sexuelle Verfügbarkeit des jeweils Anderen, und ein unheilvoller circulus vitiosus nimmt seinen Lauf: Weil es keine sexuelle Intimität mehr gibt und zumindest einer das nicht gut findet, entsteht schlechte Stimmung zwischen beiden; weil es schlechte Stimmung gibt, entsteht keine Situation für sexuelle Intimität mehr. War Sex anfänglich eine Freisetzung von Zärtlichkeit und eine Vernichtung von Zorn, so führt sein Fehlen nun zu einer Vernichtung von Zärtlichkeit und Freisetzung von Zorn.
Regelmäßigkeit und Ritualisierung können hilfreich sein, um nicht Nacht für Nacht mühsam von Neuem die Frage beantworten zu müssen: Wann, wo, wie, wie lange und wie oft? Die Berufung darauf, was »normal« ist, hilft hier nicht weiter, denn das Spektrum der Normalität ist denkbar weit offen, auch bei der eigentümlich spannenden Frage der Frequenz , auf die in der Antike schon eine medizinische Autorität wie Hippokrates, viel später eine religiöse Autorität wie Luther die gleiche Antwort gegeben haben sollen, Luther mit dem einprägsamen Reim, der jedoch in seinem Werk nicht auffindbar ist: »In der Woche zwier, schadet weder ihm noch ihr.« In merkwürdiger Übereinstimmung damit ergibt sich dieserMittelwert, wenn moderne Meinungsforschungsinstitute Tausende von Menschen etwa in Deutschland nach der Häufigkeit ihrer intimen Kontakte befragen: »Achtmal Sex im Monat.« Sollte das besonders bekömmlich sein, folgt aus dem Wissen dennoch nicht zwingend ein Handeln, denn auch zweimal am Tag oder zweimal im Jahr können der Rhythmus eines Paares sein, je nach Konstitution der Beteiligten: Die Ethik der Liebe besteht nicht in der Erfüllung einer Norm, sondern in der Einigung auf eine befriedigende Lösung für beide.
Der Umgang mit dem Alltag wirft noch einmal Probleme des Wünschens und der Macht auf: Die offensive Haltung, ihn zu akzeptieren und gar zu lieben, kann so weit gehen, sich nur noch Alltag zu wünschen und wollüstig in seiner überschaubaren Enge und Endlichkeit zu schwelgen, wie dies der Maler des Denkens, René Magritte, mit seiner Frau Georgette über viele Jahre hinweg im Brüsseler Vorort Jette, Rue Esseghem 135, praktizierte. Auch Daily Soaps offerieren diese Variante und bedienen die Sehnsucht vieler Menschen nach der Normalität einer Nische in einer Welt, die in ihren Augen aus den Fugen gerät. Dann aber kann die alltägliche Vertrautheit des Umgangs miteinander zur Herrschaft distanzloser Verhältnisse führen, zu einer Tyrannei der Intimität . Der Soziologe Richard Sennett, der diesen Begriff 1977 prägte, meinte damit die Selbstbeschränkung von Menschen auf ihre nächste Umgebung, die Verengung ihrer Perspektive auf die intime Beziehung, der allein noch Bedeutung zukommt, sodass über der Fixierung auf die kleine Gemeinschaft die größere Gesellschaft außer Blick gerät. Die Tyrannei beginnt mit der gelebten Intimität im Alltag, in dem keine Lebensregung des Einen mehr dem Anderen entgeht. Paare neigen dazu, die Tyrannei aus freien Stücken noch zu steigern, wennalles zwischen ihnen gemeinsam sein muss und es nicht das kleinste Geheimnis voreinander geben darf, in der Hoffnung, die Intimität bürge für die Intensität des Gefühls, so viel Nähe erzeuge also auch Wärme. Die Tyrannei setzt sich damit fort, dass jede Geste, jedes Verhalten in den sexuellen Vollzug von Intimität münden muss, dass jedenfalls die Möglichkeit dazu in der Vorstellung der Beteiligten zu einem entscheidenden Maßstab für das Vorhandensein von Liebe wird.
Aber bei so viel Intimität kann der Einzelne keine Intimsphäre mehr für sich beanspruchen, wie dies die Bewahrung füreinander erfordern würde, um für den jeweils Anderen eben nicht völlig durchschaubar zu sein, denn was durchschaubar ist, wird langweilig. Je größer die Nähe, desto bedrohter die Aura des
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