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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Geheimnisvollen, und so folgt dem Interesse für einen Augenblick bald Desinteresse für die verbleibende Zeit. Nachhaltig von Interesse ist nur, was in seiner verborgenen Fülle nicht zu erschöpfen ist: Es erscheint voller Möglichkeiten und bleibt hermeneutisch ergiebig, bedarf ständig neuer Deutung und Interpretation und gewinnt somit an Bedeutung. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich die Wertschätzung füreinander im selben Maße auflöst, in dem beide sich ihre intimsten Geheimnisse anvertrauen, ohne auch nur eines für sich zu behalten: »Wer dem Andern sein Geheimniß mittheilt, macht sich zu dessen Sklaven« (Gracián, Handorakel , Aphorismus 237). Dass die Attraktivität mit der Entblößung schwindet, ist das Problem aller Paare, die die größtmögliche Entblößung voreinander für Liebe halten. Sie verstehen nicht, wie ihnen geschieht, wenn ausgerechnet die große Nähe sie voneinander entfernt: »Die Liebe führt die Vertraulichkeit ein, und mit jedem Schritt, den diese vorwärts macht, macht die Hochachtung einen zurück« (Gracián, Aphorismus 290).Nicht selten zerbricht in der ausweglosen Intimität die glänzende Oberfläche der Höflichkeit und Rücksichtnahme; es erweist sich, was für ein dünner Firnis die Kultur ist, diese immer noch sehr junge Errungenschaft in der Geschichte der Menschheit. Darunter verbirgt sich ein Mensch, der von Reiz-Reaktionsmustern regiert wird: Floskeln verlassen seinen Mund, die er passieren lässt, weil eine Überlegung jetzt zu anstrengend wäre. Zivilisiertheit aber braucht ein Mindestmaß an Distanz zueinander. Und einen Verzicht auf nackte Machtausübung. Unter den neuralgischen Punkten des alltäglichen Umgangs miteinander schwelt allzu oft die Machtfrage und flammt zuweilen lichterloh auf.

Warum die Liebe so schwierig ist:
Fragen der Macht
    »Dir könnte ich nie wehtun.« Das ist die aufrichtige Überzeugung der Liebenden in Zeiten der Freude aneinander – um in anderen Zeiten das Gegenteil zu tun. Erzwingt die Freude den Schmerz als Gegenpol? Die Frage stellt sich in vielen Liebesbiographien, filmisch zugespitzt in der Schule des Begehrens ( L’École de la chair , nach einem Roman von Yukio Mishima, Regie Benoît Jacquot, Frankreich 1998). Die Hauptdarstellerin Dominique (Isabelle Huppert) wähnt sich mit Überschreiten des 40. Lebensjahres schon jenseits des Begehrens, als sie einem sehr schönen, sehr jungen und arroganten Mann begegnet, der Männern ebenso wie Frauen gefällt. Er verkauft seine Dienste, sie kauft. Es ist nur ein Spiel, eine Abwechslung im grauen Alltag. In einem Hotelzimmer holt sie sich ihre Lust und verabschiedet sich nüchtern: »Ich weiß nicht, ob wir uns wiedersehen.« Aber ihr Begehren ist entflammt undentzieht sich jeder Kontrolle, seines auch, aus dem Spiel wird Ernst, und nun müssen beide lernen, damit zurechtzukommen. Erste Lektion in der Schule des Begehrens: »Wir müssen uns mäßigen.« Aber sie können es nicht, mit absehbaren Folgen: Ihre Welten kollidieren. Er kennt nur sich und seine Ansprüche, begegnet ihr mit brutaler Direktheit, besteht auf schrankenloser Freiheit und fordert ultimativ, megacool , ihr Einverständnis, »sonst leidest du«. Sie kennt das Leben und seine Widersprüche, begegnet ihm mit übergroßer Zärtlichkeit und ebenso großer Kälte, die nicht weniger brutal ist als seine Direktheit. Ein Ausflug in die arabische Welt, der er entstammt und die ihm doch so fremd ist, endet in Irritation. Beide zittern vor Liebe – und vor Enttäuschung. Grundlos geht er weg und rät ihr: »Weine nicht, du bist ein großes Mädchen.«
    Mit traumwandlerischer Sicherheit finden die Liebenden Wege, sich wechselseitig wehzutun, und entwickeln nicht nur ein Gespür dafür, wo ihre ergiebigste Energiequelle sprudelt, der Hot Spot , der sie himmlisch beflügelt, sondern auch, wo der wunde Punkt des jeweils Anderen zu finden ist, der Soft Spot , an dem die Möglichkeiten der Verletzung am größten sind. Gerne machen sie dabei Gebrauch von der ganzen Skala des Liebesentzugs , von der leisen Andeutung der Möglichkeit dazu, dann von der lauteren Ankündigung des Vollzugs, um den Anderen schließlich wirklich am empfindlichsten Punkt zu treffen, ihm großzügig gewährte Privilegien wieder zu entziehen, seine Wünsche, Bedürfnisse und vor allem sein Begehren zu ignorieren, ihm Wertschätzung und Würde streitig zu machen und schließlich mit ihm »Schluss zu machen«. In der Schule des Begehrens vermitteln

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