Die Liebe atmen lassen
Die Liebe, die zwischen Zueinanderhin und Voneinanderweg, zwischen Polarisierung und Potenzierung atmet, fügt sich in die Pendelbewegung des stetigen Hin und Her; sie verzichtet auf den Traum vom Stillstand am Punkt der Verschmelzung und entkommt der Hassliebe, die zwischen Zueinanderhin und Voneinanderweg festhängt.
Seit jeher strittig sind freilich die beiden Bezugspunkte der Beziehung: Wer oder was ist wirklich der Ausgangspunkt, das Subjekt der Beziehung? In der vorgeschlagenen Definition ist allgemein von »etwas oder jemandem« die Rede, denn es ist unklar, um wen oder was es sich eigentlich handelt. Sokrates und Diotima stellten in Platons Symposion erstmals die Überzeugung in Frage, die Liebe überkomme den Menschen von einer äußeren Macht, von Gott Eros her: Der Einzelne sollte nicht mehr bloßes Vollzugsorgan einer göttlichen Eingebung sein, ohne eigene Verantwortung für das Geschehen zu tragen. In moderner Zeit haben unbewusste Emotionen die Rolle einer inneren Macht übernommen, die den bewussten Menschen ebenfalls ohne jede eigene Beteiligung besetzt, ein ungewöhnlicher Ausnahmefall in der Autonomie des modernen Subjekts, die sonst so gern beansprucht wird. Im wirklichen Leben hat der Einzelne dennoch zu entscheiden, ob er seinen Gefühlen Folge leistet, und er wird gut daran tun, sich ein Mindestmaß an Einflussmöglichkeit auf sie zu erarbeiten: Nur so kann er sie gegebenenfalls auch zurückhalten, oder umgekehrt ihre Impulse nutzen, um aus sich herauszugehen, Interesse an etwas oder jemandem zu zeigen und einer Faszination zu folgen. Liebe ist dann nicht mehr nur ein Gefühl, sondern eine bewusste Entscheidung für die Zuwendung und Zuneigung zu etwas oder jemanden; auch auf dieserGrundlage wird die Entfaltung der Sorge möglich, durch die die Liebe kenntlich wird: Sich um etwas oder jemanden zu ängstigen ( ängstliche Sorge ), für etwas oder jemanden da zu sein, immerzu aufmerksam zu sein auf dessen Belange ( fürsorgliche Sorge ), und schließlich vorauszudenken und sich vorausschauend zu verhalten, und dies nicht mehr nur für sich selbst ( vorsorgende Sorge ). Das sorgende Fühlen und Denken öffnet das Selbst für das Andere und den Anderen, übernimmt Subjektfunktion und macht jede Gleichgültigkeit vergessen, die der eigentliche Gegensatz zur Liebe ist (Harry G. Frankfurt, Gründe der Liebe , 2004) – sofern sie so gedeutet wird.
Und wer oder was ist wirklich der Zielpunkt, das Objekt der Beziehung? Erneut ist allgemein von »etwas oder jemandem« die Rede, denn es ist nicht klar, wer oder was darunter genauer zu verstehen ist: Wen oder was liebt ein Mensch wirklich? Liebt er das Andere oder den Anderen in seiner Unverwechselbarkeit, oder im anderen Menschen nur »den Menschen« allgemein, der auch noch ein Anderer sein könnte? Schon das Urbild romantisch Liebender, Shakespeares Romeo , hatte anstelle von Rosaline plötzlich Julia im Sinn. Ein Romantiker der wahren Liebe wie Novalis konnte binnen kurzer Zeit Sophie, die starb, durch Julie ersetzen, wenngleich unter Strömen von Tränen. Die Romantikerin Caroline Michaelis wechselte per Heirat von Böhmer zu Schlegel zu Schelling. Die Bezugspunkte der Liebe vervielfachen sich im Laufe der Moderne, auch wenn für den Liebenden die Liebe mit dem Gesicht und den Eigenheiten des jeweils geliebten Menschen verschmilzt: »Liebe ist so wie du bist«, weiß der Popsong (Nena, 2005), die moderne Form des Minnesangs. Aber in jeder Liebe scheint es ein universelles Element zu geben, sonst wäre die Übertragung der einzigartigen »wahren Liebe« auf einen anderenMenschen undenkbar. Geliebt wird zwar jemand , aber immer auch etwas , nämlich die Liebe selbst , und wohl immer auch das eigene Selbst , dem die Zuwendung und Zuneigung des Anderen zugute kommt. Die Liebe und ihr Adressat sind zweierlei, aber sie werden auf glückliche Weise eins in den Wonnen des Verliebtseins und erneut im Glück der Fülle der reifen Liebe, auf unglückliche Weise beim Versiegen der Liebe, wenn in den Augen des Verlassenen die Liebe ein letztes Mal mit dem verlorenen Menschen verschmilzt.
Das Bedürfnis, die Liebe an ein konkretes Gegenüber zu koppeln , hat Gründe, denn in dessen Wirklichkeit wird sie am ehesten erfahrbar, trotz aller Einbußen, die die Wirklichkeit mit sich bringt. In ihm kann der Einzelne die Liebe lieben, genauer gesagt das, was er als Liebe deutet und wovon er energetisch überwältigt wird, da er darin eine Intensität erfährt, die ihn
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